Stell dir vor, du stehst in einem dunklen, feucht-kühlen Raum mit Felswänden. Hinter dir führt eine steinerne Treppe nach oben, du hörst den Wind durchziehen. Die Wände der Kammer sind bunt mit Hieroglyphen und altägyptischen Motiven bemalt, beleuchtet nur von einer hell flackernden und laut knisternden Öllampe auf einem Absatz an der Wand. Ein paar Meter weiter siehst du eine Treppe, die durch den Fels weiter nach unten führt.
Du bemerkst, dass du in den Händen Taschenlampen trägst und leuchtest damit den Raum aus. Weiter hinten sind ebenfalls farbenfrohe Malereien an den Wänden zu sehen und du erkennst einen Durchgang in eine Nebenkammer. Feine Staubpartikel schweben im Licht der Lampe, und die gemalten Figuren an den Wänden scheinen förmlich aufzuleuchten, wenn du mit dem Lichtkegel darüber streifst.
Du schaust dir das Wandbild neben dir genauer an, es ist eine ägyptische Frau mit den Attributen einer Königin. Du bewegst den Kopf nah ran und leuchtest in verschiedenen Winkeln drüber – du kannst jede Unebenheit in der Wand erkennen. Fast spürst du die Kälte, die von der Felsoberfläche ausgeht, und dir scheint ein leicht moderiger Geruch in die Nase zu steigen, den du aus vielen alten Kammern und Krypten unter der Erde gut kennst.
Mit der Hand möchtest du über die Wand streichen.. aber du fasst durch sie hindurch. Die Wand ist gar nicht da, denn du befindest dich zu Hause vor dem Computer, mit der VR-Brille auf dem Kopf – und gleichzeitig in der Grabkammer von Nefertari (Grabnummer QV66) im Tal der Königinnen beim antiken Theben in Ägypten.
Die Grabkammer der Nefertari
Nefertari, übersetzt „Die Schönste von allen, Geliebte der Mut“ (laut Wikipedia) war die Gemahlin eines der bekanntesten Pharaonen des Alten Ägyptens, Ramses II. Sie starb um 1255 v. Chr., also vor über 3000 Jahren, und genauso alt ist auch ihre Grabkammer mit den faszinierend gut erhaltenen Wandmalereien.
Einen Grundriss der Grabkammer gibt es auch auf Wikipedia – aber die Erfahrung, in der Kammer zu stehen und die Malereien selbst zu entdecken, kann kein Lexikon der Welt bieten. Dazu musst du schon hinreisen – seit Ende 2017 ist die Grabkammer wieder für Besucher geöffnet. Der Eintritt kostet rund 50 €, was den Massentourismus abhalten soll. Dafür darf man sich rund 15 Minuten in der Kammer aufhalten und die Malereien auf sich wirken lassen.
Das Denkmal fast hautnah erleben
Eine gute Alternative ist die kostenlose VR-Erfahrung Nefertari – Journey to Eternity. Die Anwendung ist rund 10 GB groß und seit dem 28. Juni 2018 für HTC Vive und Oculus Rift auf Steam verfügbar. Hier hast du die Grabkammer für dich ganz allein und kannst dir soviel Zeit lassen, wie du möchtest.
„Erfahrung“ ist hier das richtige Wort für die Anwendung, denn sie ist kein Spiel. Es gibt keine Quests, keine NPCs, keine lebendigen Mumien – nicht einmal einen Spielcharakter. Alles, was du bekommst, ist diese wahnsinnig beeindruckende Grabkammer und deine beiden Controller, die als Taschenlampen dienen. Du kannst sie übrigens separat ein- und ausschalten.
Das ganze Erlebnis hat wirklich ausschließlich (virtuellen) Realitätscharakter. An manchen Bereichen kannst du einen „Führer“ einschalten, eine englische Stimme aus dem Off, die zu den Motiven erklärende Informationen gibt. Ganz wie vor Ort (nehme ich an).
Hier gibt es auch gleich einen Vergleich zu ziehen. Assassins Creed Origins, das uns in die Zeit von Königin Kleopatra über 1000 Jahre nach Nefertari entführt, bietet einen Entdeckermodus an. Zweimal Ägypten, zweimal Museum – aber doch völlig unterschiedliche Konzepte: Während der Assassins Creed-Entdeckermodus durch das Herumstreifen in der Welt und „Wissensstationen“ Informationen vermittelt, geht es bei Journey to Eternity in Nefertaris Grabkammer vor allem um das Erleben eines historischen Denkmals.
Herausragende Grafikqualität durch Photogrammetrie
Die virtuelle Grabkammer ist aber vor allem wegen ihrer herausragenden Qualität so beeindruckend. Bei VR-Anwendungen ist in der Regel die Grafik und deren Auflösung der Schwachpunkt. Eine so gute VR-Grafik wie in Nefertaris Grabkammer habe ich mit meiner Oculus Rift noch nie gesehen. Hier kann man wirklich nur sagen: „So nah, als wär man da“! Wundert aber auch nicht: Es gibt nur die paar Räume, ein paar Licht-Staubeffekte und sonst nichts – und die Anwendung knallt trotzdem 10 GB auf die Festplatte.
In „ultra“-Einstellung ruckelt es bei mir auch zu sehr, ich musste auf „high“ runterschalten (es ruckelt noch immer ein wenig). Daran sieht man – in Journey to Eternity geht es ausschließlich darum, wirklich eine Alternative zu einem realen Besuch zu ermöglichen. Besser, die Leute schauen sich die empfindliche, uralte Malerei nur virtuell an, als durch ihre Atemluft, Erschütterungen und was auch immer die bunte Farbenpracht tatsächlich zu beeinträchtigen.
Möglich ist der herausragend realistische Eindruck auch deswegen, weil es nicht nur einfach ein dreidimensionales Modell ist. Eine „normale“ 3D-Rekonstruktion kannst du dir auf Osirisnet anschauen. Dabei wäre alles viel flacher und glatter. Nein – die Rekonstruktion entstand durch Photogrammetrie. Dabei wird jede Macke, jede Erhebung, jede Kerbe ganz genau aufgenommen und im Modell in hoher Auflösung wiedergegeben. Die Wände und Decken der Grabkammer wirken dadurch geradezu plastisch.
Unbedingt anschauen, wenn möglich!
Obwohl es in Nefertaris Grabkammer außer den Malereien an den Wänden nichts zu entdecken gibt, wollte ich mich gar nicht aus dem Raum lösen, so faszinierend echt wirkte er. Wie beeindruckt ich bin, merkst du im Video: Viel mehr als „Wahnsinn“ und „unglaublich“ fällt mir nicht ein zu sagen :D Und damit beziehe ich mich auf die Technik und das Gefühl, wirklich dort zu sein. Ich muss mir mal extra Zeit nehmen und die Motive wirken lassen – sie stellen immerhin Menschen (und Götter) dar, wie sie vor über 3000 Jahren ausgesehen haben!
Das Video und die Screenshots oben sind übrigens zwar ziemlich gut und machen schon viel her – aber ich garantiere dir: Mit der VR-Brille ist es noch 10x besser! Bilder und Videos sind eben einfach nicht imstande, eine VR-Erfahrung richtig abzubilden.
Nefertari – Journey to Eternity zeigt aber auch: Wenn realistische Grafik wirklich gewünscht ist, dann ist die VR-Brille kein Hindernis. Das Hindernis ist eher die begrenzte Leistung des Rechners. Gut zu wissen – und ich hoffe auch weitere vergleichbar qualitätsvolle „VR-Erfahrungen“ in der Zukunft!
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