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Sandsturm – Jeder ist Opfer der Gesellschaft

Sandsturm

Der 88 Minuten lange Film „Sandsturm“, im arabischen Original Sufat Chol, rückt auf bedrückende Weise in den Fokus, wie sehr gesellschaftliche Normen einzelne Menschen einschnüren können. Es ist ein tiefer Einblick in eine für die westliche Welt kaum noch denkbare, da mittelalterlich anmutende Kultur. Keine Wahl zu haben – das ist ein zentrales Motiv des Films der israelischen Regisseurin Elite Zexer. „Man hat immer eine Wahl!“ schreit die junge Studentin Layla ihren Vater Suliman an – doch die Geschichte zeigt im Verlauf, dass das letztlich nicht stimmt. Es gibt keine befriedigende Lösung für die auftretenden Dilemmas, in denen sich die Mitglieder einer in ärmlichen Verhältnissen lebenden Beduinenfamilie befinden.

Die Traditionen sind einfach übermächtig. Traditionen, die strenge patriarchalische Rollen vorschreiben und in denen der Stammesrat der Männer das individuelle Leben und die Freiheit der Familienmitglieder verantwortet. In dieser Gesellschaft haben Frauen nicht das Wort gegenüber ihrem Mann oder Vater zu erheben, während Männer zusätzliche Ehefrauen unterhalten dürfen oder, wenn der Ruf des Mannes in Gefahr ist, auch mal ihre Ehefrau verstoßen und zurück zu ihrem Vater schicken können.

Sandsturm

Der Film Sandsturm zeigt all das, aber ohne irgendjemanden anzuklagen. Es ist kein Anti-Männer-Film! Natürlich dreht sich die Geschichte um die Rolle der unterdrückten Frauen in traditionell muslimisch lebenden Familien, aber es ist keine schwarz-weiß-Geschichte von Ehrenmorden oder gewalttätigen Patriarchen. Sie kommt ganz und gar ohne Gewalt oder ausgeübte Unterdrückung aus. Sie zeigt nur das eng geschnürte Korsett der Gesellschaft, in dem jeder einzelne – auch der Familienvater – gegen seinen Willen gefangen ist. Hier gibt es keine Täter, sondern nur Opfer. Und deswegen ist Sandsturm so bedrückend.

Zwischen Tradition und Moderne

In der Negev-Wüste im Süden Israels leben noch heute Beduinenstämme in klapprigen, improvisierten Hütten. Sandsturm beginnt damit, dass der Familienvater Suliman seine älteste Tochter Layla den Pickup der Familie durch die karge Landschaft fahren lässt. Wir sehen eine ganz normale privateAutofahrstunde mit Vater und Tochter. Dabei erfährt der Zuschauer, dass Layla in der Stadt studiert und Suliman, der selbst nicht studiert hat, stolz auf seine Tochter ist. Die beiden haben ein liebevolles Verhältnis, das ist von Anfang an klar.

Kurz vor dem Wohnort der Familie wechseln die beiden die Sitzplätze und Suliman fährt selbst, während Layla scheu nach unten schaut, als ihr Vater aus dem Auto heraus ein kurzes Schwätzchen mit einem Nachbarn hält. Hier zeigt sich nun: Wie Vater und Tochter miteinander umgehen, wenn sie allein sind, das ist nicht die Art des Umgangs, die sie nach außen zeigen (können). Dann kommt die nächste überraschende Information: Es ist nämlich kein normaler Tag. Suliman heiratet heute. Er hat sich neben Laylas Mutter Jalila eine Zweitfrau genommen.

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Eine bizarre Hochzeit

Zu Hause hilft Layla ihrer Mutter dabei, das Ehebett für Suliman und seine neue Frau zusammenzubauen, und wir sehen, wie sehr Jalila darunter leidet, dass ihr Mann sich eine zweite Frau genommen hat. Schroff fährt sie ihre Tochter an, mit erstarrtem Gesicht beobachtet sie durch das Fenster die eintreffenden Gäste. Als sie dann aufgebracht aufsteht, reißt Jalila ihr Kleid ein und Layla gibt ihr, der Gastgeberin der Hochzeit, ihr eigenes Kleid. Und damit nimmt das Unglück seinen Lauf, denn sie vergisst dabei, ihr Handy aus der Tasche zu nehmen. Prompt klingelt während der Hochzeitsfeierlichkeiten Laylas Handy und Jalila erfährt, dass Layla an der Universität einen Freund hat.

Jalila ist mit den Nerven sowieso schon am Ende, schließlich musste auf der Hochzeit ihres eigenen Mannes mit einer anderen Frau gute Mine zum bösen Spiel machen und den Haushalt werfen, während ihr Mann mit seiner neuen Frau in die (kurzen) Flitterwochen fährt. Darüber hinaus hat Suliman viel Geld für die neue Frau ausgegeben, um deren Teil des Hauses möglichst hübsch einzurichten, während seine erste Frau und seine Töchter mit nackten, schmucklosen Wänden vorlieb nehmen müssen.

Dass dann die älteste ihrer vier Töchter auch noch einen Freund hat, „einen Jungen aus einem anderen Stamm?!“, das kann sie nicht akzeptieren. Für Jalila ist der Lebensweg für ihre Töchter klar: Sie werden ehrenwerte und würdige Männer des eigenen Stammes heiraten und Kinder bekommen. Dass Layla studiert, ist für sie sowieso schon nicht verständlich, und dann kommt noch sowas dabei raus.

Die Integrität der Töchter ist für eine Mutter vielleicht deswegen so wichtig, weil daran auch ihre eigene Integrität hängt – wenn die Tochter auf einmal mit Männern herumhängt, studieren geht und sich freizügiger kleiden würde, wäre das aufopfernde und gehorsame Leben der Mutter irgendwie umsonst gewesen. Irgendwie ist das sogar zu verstehen.

Hochzeit
Die Frauen auf der Hochzeit mit Sulimans zweiter Frau. Viele der Frauen hier tragen übrigens einen künstlichen Schnurrbart und tragen Männerkleider – ich konnte leider nicht herausfinden, warum sie das tun?!

Studium oder arrangierte Ehe?

Dass Layla überhaupt studiert, ist angesichts dieser traditionellen Familienverhältnisse schon erstaunlich genug. Dass ihr Vater sie dabei unterstützt, ist für sie ein unglaublicher Glücksfall, denn dadurch hat sie theoretisch die besten Voraussetzungen dafür, später ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Auf der Uni hat Layla nicht nur Kontakt zu Männern, sondern wir sehen auch, wie sie sich den Weg durch einen mit westlich gekleideten Menschen ohne Kopftücher belebten Bahnhof bahnt. Layla kennt also beide Welten: Sowohl die traditionelle, patriarchalische Welt ihrer Familie, als auch die, in der Frauen gleichberechtigt sind und frei entscheiden können. Dass ihr Vater seine Tochter studieren lässt und ihr damit ermöglicht, die Luft dieser anderen Welt zu schnuppern, ist also alles andere als selbstverständlich.

Das kommt auch an anderer Stelle zum Vorschein. Während die Frauen auf der Hochzeit tanzen, sitzen die Männer ein paar Sandhügel weiter unter einem Zeltdach zusammen und besprechen Männerthemen. Zum Beispiel die Hochzeit ihrer Kinder. Ein anderer Mann drängt Suliman dazu, Layla mit seinem Sohn Munir zu verheiraten. Suliman, das merkt man, will das eigentlich gar nicht. Er wirft ein, dass Layla erstmal ihr Studium beenden soll.

„Wozu denn überhaupt das Studium?“, fragt der andere Mann. Ja, wozu denn, wenn die Frauen doch sowieso zu Hause bleiben und Kinder bekommen. Der Mann beharrt auf eine baldige Antwort. Und wir merken: Hier liegt der Kern des Problems, als Layla, die von den Heiratsplänen genauso wenig weiß wie ihre Mutter, bald darauf ihren Freund ihrem Vater vorstellen möchte, um seinen Segen zu ihrer Liebe zu erbitten.

Wann ist ein Mann ein Mann?

Das eigentlich Traurige an der Geschichte von Sandsturm ist, dass der Familienvater so freizügig ist. Man sieht ihm seine Liebe zu seinen Töchtern wirklich an. Er erlaubt ihnen weit mehr, als eigentlich üblich wäre, sehr zum Ärger der Mutter Jalila, die in vielen Fragen viel strenger erscheint als Suliman.

Ist kein Außenstehender in der Nähe, erlauben sich Jalila und Layla auch deutliche und laute Widerworte Suliman gegenüber. Der das auch mitmacht – aber nur, so lange es nicht nach außen dringt. Denn das Ansehen eines Mannes hängt von seiner Autorität als Familienvater ab. Rebellierende weibliche Familienmitglieder beschädigen dieses Ansehen des Mannes im Stammesrat. Suliman hat muss also einen äußerst schwierigen Drahtseilakt bewältigen zwischen Freiheiten für seine Frau und Töchter und Aufrechterhaltung seines eigenen Rufes.

Auch die Idee mit der Zweitfrau ist übrigens ein Beschluss oder ein Handel des Stammesrates, denn Suliman sagte – wie öfters in Sandsturm -, dass er diesbezüglich keine Wahl gehabt hatte. Ich könnte mir vorstellen, dass die Zweitfrau-Geschichte auch dazu galt, ohne Worte klarzumachen, wer der Mann im Hause ist. Denn Jalila und Suliman diskutieren und beraten nicht als Ehepaar. Suliman diskutiert und berät im Stammesrat und informiert irgendwann seine Frau.

Indem er sich dazu entscheidet, eine zweite Frau zu sich zu nehmen, zeigt Suliman nicht nur im ganzen Dorf, dass er das tut, was man von einem Mann erwartet. Auch seine Frau sieht, dass sie am Ende den Kürzeren zieht. Selbst dann, wenn ihr Mann sie nicht schlägt und sich auch durchaus harsch von ihr angehen lässt.

Was also zunächst nach patriarchalischem Familienoberhaupt mit eiserner Hand und lüsternen Lenden klingt, ist eigentlich bei genauerem Blick die schwierige Rolle, die ein Mann einzunehmen hat, der für seine Töchter nur das Beste will, dabei aber nicht als lascher Schlappschwanz durchgehen darf.

Sandsturm: Männer unter sich
Suliman im Stammesrat, seine jüngere Tochter ist aus Langeweile auch dabei

Jeder steckt in einem Korsett

Und weil „Sufat Chol“ keinen bösen Patriarchen oder irgendeinen fiesen Männerrat als Gegenspieler stilisiert, wird umso deutlicher, dass ein Ausbruch aus den Traditionen nicht so einfach ist, wie man es sich vorstellt. Es wirkt doch so simpel: Du wirst von deinem Vater oder Mann tyrannisiert? Dann lauf doch weg, du brauchst diesen prügelnden Mann nicht! Was aber, wenn dein Vater oder Mann dich liebt, dir mehr erlaubt, als gesellschaftlich normal wäre und ganz sicher nicht die Hand gegen dich erhebt? Wie brichst du dann aus?

Jeder in der Beduinenfamilie steckt fest in den Traditionen und muss sich ihnen fügen:

  • Vater Suliman, der für die patriarchalische Stammesgesellschaft eigentlich zu viele Freiheiten lässt und daher seine Autorität in besonderem Maße unter Beweis stellen muss.
  • Mutter Jalila, die ansich mit dem Leben, das sie führt, zufrieden ist, aber durch die Entscheidung ihres Mannes für eine Zweitfrau einen schweren Dämpfer hinnehmen muss, ohne etwas dagegen tun zu können. Auch mit der arrangierten Ehe Laylas ist sie nicht einverstanden, da sie den gewählten jungen Mann als nicht würdig genug empfindet.
  • Layla, die zwar die Möglichkeit hätte, ihre Familie einfach hinter sich zu lassen und zu tun, was sie möchte – aber das kann sie ihrem Vater nicht antun, der ihr diese Entscheidungsfreiheit (ungewollt?) durch seine Unterstützung überhaupt erst ermöglicht hat.

Allein Laylas jüngere Schwestern sind bislang frei von Zwängen. Sie tragen noch keine Kopftücher, sondern hüten in Jeanshosen zusammen mit gleichaltrigen Jungen die Ziegen auf den sandigen Hügeln. Schon die Kleidung steht dafür, dass die Mädchen noch nicht den traditionellen Pflichten einer Frau nachkommen müssen. Ganz einfach und leichtfüßig können die jüngeren Schwestern zwischen der Welt der Frauen mit ihren langen Kleidern und strengen Kopftüchern und der Welt der Männer im Stammesrat umherwechseln. Und so weiß Laylas jüngere Schwester lange vor Layla und ihrer Mutter, dass Layla eine arrangierte Ehe bevorsteht – und zwar aus erster Hand, weil sie während der Verhandlung selbst dabei war.

Einfache Lösungen gibt es nicht

Sandsturm ist für mich gerade deswegen so bewegend, weil die Konflikte, mit denen jeder einzelne kämpfen muss, so deutlich werden. Es gibt kein schwarz und weiß und auch keine einfachen Lösungen wie: Lauf doch einfach weg. Kurz vor Ende des Films wurde mir klar, wie er enden muss. Und zwar nicht mit einem Happy End und dem Sieg der westlich vorgelebten Freiheit.

Layla wird in Sandsturm nicht durch Gewalt und Hausarrest in traditionelle Muster gezwungen. Sie hat keine älteren Brüder, die die Ehre der Familie verteidigen wollen/müssen, und ihr Vater lässt Layla und ihren Schwestern viele Freiheiten. Und gerade deswegen lässt sich Layla selbst in das patriarchalische System zwängen, obwohl sie durch ihr Studium sieht, wie altmodisch das System ist.

Ihr Freund schlägt vor, mit ihm zu seinem Onkel zu fliehen, doch Layla möchte das ihrem Vater nicht antun. Wäre der Vater ein gewalttätiger Mann, dann hätte Layla fliehen können. Aber er ist es nicht und Layla möchte ihm seine Freizügigkeit nicht durch Ungehorsamkeit danken.

Es ist ein rein gedanklicher Käfig, den Layla sich aufzwingt: Sie möchte ihren Vater nicht in die Situation bringen, dass er einsieht und bereut, dass er durch seine gewährten Freiheiten selbst Schuld daran tragen würde, wenn seine Tochter gegen ihn rebelliert. Die lange Leine ihres Vaters interpretiert sie als sein Vertrauen in sie, dass sie die Freiheiten nicht ausnutzen werde. Und niemand möchte das Vertrauen eines geliebten Menschen enttäuschen.


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Mittelalter und 21. Jahrhundert liegen dicht nebeneinander

Der Film Sandsturm ist ein interessanter Einblick in kulturelle Strukturen und deren Dynamiken, in die wir in unseren Gefilden nur einen verzerrten Einblick haben. Und auf einmal wird klar, dass es leichter gesagt als getan ist, wenn wir sagen, dass unterdrückte Frauen (oder auch Söhne?) ihre Familien eben verlassen sollen. Nicht nur, weil es manchmal gar nicht so einfach ist – erst im Januar konnten wir die dramatische Geschichte von Rahaf Mohammed aus Saudi-Arabien live miterleben.

Das 18jährige Mädchen floh vor ihrer Familie nach Thailand, von wo aus sie auch wieder zurück zu ihrer Familie geschickt werden sollte. Der gewaltsamen Abschiebung konnte sie sich nur erwehren, weil sie Unterstützer auf Twitter hatte, die sie rechtlich berieten und sie dazu anhielten, ihre Lage live zu twittern. Vielen anderen Frauen war eine solche Flucht in ein anderes Land nicht gelungen und nach ihrer Abschiebung hat man nichts mehr von ihnen gehört (zB. Dina Ali Lasloom). Rahaf Mohammed wurde wegen ihrer Flucht von ihrer Familie verstoßen.

Gründe, warum sich Frauen „quasi freiwillig“ dem traditionellen Familien- und Stammessystem fügen und auch in arrangierte Ehen einwilligen, zeigt eben der Film Sandsturm. Gerade der „Mangel an Unterdrückung“ durch die Familie führt in Laylas Fall dazu, dass sie aus Loyalität nicht rebellieren kann.

Sandsturm ist auf Netflix zu sehen und original auf arabisch. Es gibt auch eine deutsche Synchro, so dass alles leicht zu verstehen ist. Aber irgendwie ist es auch schön, mal einen Film in völlig anderer Sprache zu schauen – die Untertitel helfen weiter!

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