Details zum Buch
Autor: Dörte Hansen
Titel: Zur See
Erstveröffentlichung: 2022
Seiten: 253
Dieses Buch hab ich vor einem Jahr auf dem Tisch einer Buchhandlung am Hamburger Hauptbahnhof gesehen. Zwei Seiten oder so habe ich reingelesen, das Buch dann wieder weggelegt und gewusst: Dich kaufe ich irgendwann. Dieses Buch muss ich lesen. Jetzt hab ich es endlich gekauft und gelesen und es hat mich mitgerissen wie die Tide die Flut zurück ins Meer (Wortspiel intended).
Auf einer Insel war das Leben immer anders
Dörte Hansen gewährt mit „Zur See“ einen Blick hinter die Kulissen einer Nordseeinsel. Sie zeigt das Leben der Menschen, deren Vorfahren seit Jahrhunderten von der Seefahrt lebten und deren Insel nun von Urlaubsgästen überschwemmt wird. Die Welt ist im Wandel, und so auch das Leben auf der Insel: Wohl oder übel müssen sich die Menschen, die über Generationen kaum Bezug zum Festland hatten, anpassen.
Eine Handlung mit Spannungsbogen bietet “Zur See” nicht im eigentlichen Sinne. Es ist eher ein Blick durch das Schlüsselloch auf eine alte Seefahrerfamilie, den Sanders, und ihr Leben auf der Insel. Die Männer fuhren immer zur See, als Walfänger “ins Eismeer” oder in der jüngeren Zeit als Frachterkapitäne. Die Frauen blieben zurück, brachten die nächste Inselgeneration auf die Welt und sorgten dafür, dass die Männer ein Zuhause hatten, wenn sie zurück kamen.
Eine alte Seefahrerfamilie
Im Zentrum stehen Hanne Sander, eine alternde Kapitänsfrau, und ihre erwachsenen Kinder: Ryckmer, ein “Bild von einem Kapitän” und schlimmer Säufer, und seine jüngere Schwester Eske, eine Altenpflegerin auf der Insel. Auch ein vor 20 Jahren zugezogener Inselpastor und seine Eheprobleme gehören mit zum Bild. Die Handlung erstreckt sich lose über zwei oder drei Jahre, die aufzeigen, wie die Menschen sich ändern und Kompromisse in einer Welt machen, die sich schnell ändert.
Im Haus der Sanders, vor Jahrhunderten von einem Walfängerkapitän gebaut, geistern noch die alten Geschichten von Sturm, Sorge, Kälte und Armut herum. Jetzt ist das Haus ein beliebtes Fotomotiv, wenn die Badegäste mit der Insel-Pferdekutsche daran vorbeigekarrt werden.
Gewissermaßen plätschert “Zur See” nur so vor sich hin, wird aber nicht langweilig. Die Geschichte ist sanft und spannend wie das Leben selbst. Obwohl das Buch nur 250 Seiten hat, fühle ich mich tief integriert in die Familie Sander und ihr Leben zwischen Insel-Altertum und Touristenattraktion. Alle Figuren machen auf diesen Seiten starke Wandlungen mit. Hansen arbeitet auch mit Rückblicken und verschiedenen Perspektiven der Figuren. So entwirren sich manche Zusammenhänge erst im Laufe des Buches.
Es gibt auf einer Insel kein Geheimnis. Man kann sich hinter Knochenzäunen nicht verstecken, wenn die Nachbarn und Verwandten seit Jahrhunderten die Augen- und die Ohrenzeugen des Familienlebens waren. Alle sehen es, wenn Hanne Sanders Ältester von seinen Hafenkneipentörns nach Hause schlingert. […] Und alle wissen, dass sich Ryckmer Sander, Sohn von Jens und Enkelsohn von Henrik, Enkelsohn von Ove und so weiter, langsam, aber konsequent von der Kommandbrücke eines Tankers auf einen Nordseependelkahn herabgesoffen hat.
Dörte Hansen – „Zur See“, S. 13
“Zur See” – Rezension
Hansen schreibt sehr bildhaft und ihr Stil ist geprägt von Wiederholungen. Immer wieder wird “das Haus hinter dem Walknochenzaun” genannt und Ryckmer “der Mann, der den Poller noch trifft”. Das hilft dabei, sich ein genaues Bild von den Menschen zu machen, die Wiederholungen lenken den Blick auf das, was zählt.
Das Leben auf den Inseln
Besonders im ersten Teil des Buches geht es um die Vorstellung der Figuren. Auch deren Leben wiederholt sich im Wesentlichen seit Generationen: Das Frieren und Sterben auf den Schiffen, die Einsamkeit und die Sorge zuhause. Das langsame Überwinden der Entfremdung nach der Rückkehr der Männer und die das “Nicht winken an der Hafenkante”, wenn sie wieder losziehen – eine stetige Wiederholung, wie Ebbe und Flut.
Manche Szenen treiben mir die Tränen in die Augen, weil Hansen mit so wenigen, treffenden Worten so schmerzhafte, aber menschliche Situationen heraufbeschwört. Hansens Figuren haben Charakter, jeder von ihnen.
Man könnte glauben, dass die Menschen von den Nordseeinseln wissen müssten, was mit einem toten Wal zu tun ist. […] Jahrhunderte verrutschen manchmal auf den Inseln. Man kann das Zeitgefühl verlieren, wenn man vor reetgedeckten Häusern steht, die noch die Grönlandfahrer-Initialen in den Giebeln tragen. Und dann vergessen, dass die Zeit der Walfangschiffe seit Jahrhunderten vorbei ist, auch wenn die Nachgeborenen noch vom Geerbten zehren. Die Leute von den Inseln müssen nicht mehr frieren, und sie müssen auch nicht mehr zur See. Sie müssen nicht mehr wissen, wie man einen Wal zerlegt. Sie dürfen sich, wie alle anderen, erschrecken, wenn sie an einem Wintermorgen, kurz nach Sonnenaufgang, einen Pottwal in der Brandung finden.
Dörte Hansen – „Zur See“, S. 131f
Im zweiten Teil der Geschichte geht es lose um den langsamen Wandel, der immer mehr auf das Leben der Alteingesessenen übergreift und sie “an die Ränder verdrängt”: in die Zeiten vor der ersten und nach der letzten Fähre des Tages, wenn es wieder ruhiger wird auf der Insel.
Wie soll man auch ein normales Leben als Familie oder auch Gemeinschaft führen, wenn jeden Tag Tausende Touristen durch alle Straßen schwirren, das Elternhaus fotografieren und erwarten, dass man ihnen ein Inselidyll vorspielt? Die einen versuchen, sich zu arrangieren, die anderen fliehen. Genau in diesem Konflikt liegt der Knackpunkt des Buchs.
Ich fühle mich entlarvt
“Zur See” bietet eigentlich zwei Perspektiven. Den einen Blick hinein ins Leben der Einheimischen mit ihren Geschichten und Traditionen. Und den anderen Blick auf die Touristen, die auf die Insel kommen, um unter anderem die Geschichten und Traditionen selbst zu sehen. Hansen berichtet von einem modernen Tourismus, einem Tourismus, der Erwartungen bedient. Und sie entlarvt ihn.
Du kennst das, an der Nordsee willst du ein Fischbrötchen essen. Natürlich, Fisch fangfrisch aus der See, das gehört dazu – aber der Fisch kommt nicht mehr vom Hafenkutter vor der Küste, sondern aus der Lachs-Qualzucht in Norwegen oder von industriellen Schiffen, die den Nordatlantik leerfischen, während Krabben zum Pulen nach Marokko verschickt und dann wieder zurückgeliefert werden.
“Das große Grundschleppnetz kommt weg, sie haben sich ein kleines zugelegt. Jetzt wird der Kutter umgebaut und Melf und Harro werden tun, was die Kollegen schon seit Jahren machen: Schaufischen für die Gäste. Fahrten mit Familien, Schulklassen und Reisegruppen, Dämmertörns zur Seehundsbank und Hochzeitsfahrten.”
Dörte Hansen – „Zur See“, S. 106
Als Touristin möchte ich im Urlaub möglichst authentische Erlebnisse. Ja, Fahrten im kleinen Kreis mit einem ehemaligen Fischkutter gehören definitiv dazu. Hansen macht aber mit dem Holzhammer klar, dass ein Dämmertörn zwar schön sein mag, aber er ist eben doch nur inszeniert.
Ich möchte Geheimtipps für meinen Besuch: Die echte Hafenkneipe, in der sich die Einheimischen treffen. Aber die Einheimischen haben keine Lust, Statisten in ihrem eigenen Leben zu sein und jeder touristische “Geheimtipp” ist kein Geheimtipp, wenn er in einem Blog oder einem Führer steht.
Die Autorin schreibt nicht wertend, sie beschreibt die Lage. Und so sehen es auch ihre Figuren. Die Touristen sind nunmal da, mit all dem mitgebrachten Geld, aber auch den mitgebrachten Problemen.
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“Zur See” – Fazit
Dörte Hansen hat mein Herz geöffnet, hat Erkenntnisse reingeschrieben und zugleich Sehnsüchte heraus ans Licht gerissen und sie bloßgestellt. Ihr Buch hinterlässt mich dankbar für die Einblicke, die sich fast verboten intim anfühlen, aber auch traurig. Traurig für die Menschen auf der Insel, die zu Bespaßern von Touristen werden. Traurig auch für mich, die ich eine solche Touristin bin und niemals etwas anderes sein werde, egal, wie sehr ich keine “wie die anderen” sein möchte.
Das Buch spielt auf keiner speziellen Insel der Nordsee, es steht stellvertretend für jede von ihnen. Wer mag, könnte die Geschichte auch auf Dorfbewohner hoch in den Schweizer Alpen oder pittoreske Berberdörfer an Touristenstraßen am Rand der Sahara übertragen. Überall dort prallen Welten aufeinander und überall, wo es schön ist, sind in der Regel Touristen – und das schließt ein ursprüngliches Leben aus. Ob es wirklich genau so ist, wie Hansen beschreibt, weiß ich natürlich nicht.
Ich könnte noch viel mehr über das Buch, meine eigenen Gedanken zu den behandelten Themen und auch eigene Erfahrungen schreiben. Aber das würde den Rahmen der Rezension sprengen. Wer sich für diese Dinge interessiert, sollte die Geschichte selbst lesen. Die fünf Sterne hat das Buch bereits nach wenigen Seiten verdient.
„Zur See“ ist aber vermutlich nicht für jeden etwas. Bei mir trifft es einen Nerv. Wenn du hier Morde, eine rasante Handlung oder glänzende Helden erwartet, dann wird es dir nicht gefallen.
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