Details zum Buch
Titel: Amundsens letzte Reise
Autor: Monica Kristensen
Veröffentlichung: 21. Januar 2019
Seiten: 464
Ein älterer Mann schaut uns mit harschen Gesichtszügen vom Buchcover an. Das Bild ist die Abzeichnung eines Fotos von Roald Amundsen. Er trägt einen dicken Pelzkragen und wirkt ungeduldig, wie abgepasst auf dem Weg zur nächsten Expedition. Ehrgeizig und wenig kompromissbereit, so sieht Amundsen hier aus. Genau das vermittelt uns auch das Buch „Amundsens letzte Reise“ von Monica Kristensen.
Am 18. Juni 1928 besteigt Roald Amundsen in Tromsø ein französisches Flugboot mit Ziel Spitzbergen. Der Bezwinger des Südpols und norwegische Nationalheld macht sich auf, den Polarforscher Umberto Nobile zu retten, der mit dem Luftschiff „Italia“ bei der Rückkehr vom Nordpol abgestürzt ist. Am Abend jenes Tages geht ein Funkspruch von der Latham 47 ein – es sind die letzten Lebenszeichen von Amundsen und der Crew. Bis heute fehlt von ihnen jede Spur. Was ist damals tatsächlich passiert?
Buchrückentext, btb-Verlag
Was erwartete ich, als ich den Buchrückentext las? Ich gebe es zu: Ich freute mich auf eine spannende, aber auch tragische Geschichte, die mich noch Tage auf Wikipedia zu den Umständen schmökern lassen würde, so wie auch beim Drama mit der Eiger Nordwand. „Ein Thriller, den die Wirklichkeit geschrieben hat“ sollte es sein, das steht als Wertung auch noch hinten drauf. Diese Erwartung wurde allerdings getäuscht, denn „Amundsens letzte Reise“ ist ein handfestes Sachbuch – mehr Dokumentation als Roman.
Rettung für die Mannschaft eines abgestürzten Luftschiffes
Ein Thriller waren die Ereignisse aber tatsächlich. Im Frühsommer 1928 hielt die Welt ein paar Wochen lang den Atem an. Alle Zeitungen berichteten über den Absturz des Luftschiffs „Italia“, nachdem es den Nordpol überflogen hatte. Verschiedene Rettungsteams brechen unterstützt von mehreren Regierungen mit Schiffen, Schiffen mit Flugzeugen und Hundeschlitten auf, um die Verschollenen zu bergen.
Zwar gelingt es nach einigen Tagen den Abgestürzten, per Funk Kontakt zu den Rettern aufzunehmen, doch die Lokalisierung der Männer auf einer treibenden Eisscholle mitten im Eismeer ist äußerst schwierig. Dazu kommt auch, dass die Überlebenden des Absturzes in drei einzelne Gruppen getrennt wurden, und nur zu einer gibt es Verbindung.
Ein echter Thriller, der die Schlagzeilen beherrscht. Da darf der legendäre Polarfahrer Amundsen natürlich nicht fehlen. Zwar sind er und der italienische Expeditionsleiter Umberto Nobile seit einer gemeinsamen Expedition vor zwei Jahren nicht mehr gut aufeinander zu sprechen. Aber wenn Ruhm und weitere Heldentaten winken, geht man doch gern Kompromisse ein.
Nur: Amundsen wird außen vor gelassen. Niemand fragt ihn, der so viel Polarerfahrung hat, ob er eine Expedition anführen würde. Und so stellt er mithilfe von Sponsoren eine private Rettungsexpedition zusammen. Er erhält ein französisches Langstreckenflugzeug, eine Latham 47, die auf dem Wasser landen kann, und die französische Crew gleich mit dazu.
Als Außenseiter, ohne Unterstützung einer Regierung oder jemanden über seine geplante Flugroute zu informieren, macht er sich auf den Weg – und niemand hört mehr etwas von dem Flugzeug. Für die Suche nach Amundsen und seinem Team wird nun eine weitere riesige Suchaktion mobilisiert.
Die meiste Zeit nahmen mehr als 1500 Mann teil (darunter vier Frauen – zwei Amerikanerinnen und zwei Russinnen) und insgesamt 23 Flugzeuge, 20 Schiffe, zwei Hundegespanne und mehrere Skipatrouillen mit italienischen Gebirgsjägern.
Amundsens letzte Reise, S. 329
Einstieg ins Buch
Ja, das klingt schon sehr spannend. Autorin Monica Kristensen ist genau wie Amundsen norwegische Polarforscherin hat daher bestes Verständnis für dieses Thema. Sie beschreibt die Ereignisse aber nicht als Roman mit handelnden Personen, sondern eher als Dokumentation mit zahlreichen Fußnoten.
Und das war bei mir der Fehler – denn ich dachte auch beim Inhaltsverzeichnis mit seinen knackigen, spannungsgeladenen Kapitelüberschriften noch, einen Roman vor mir zu haben. Dabei deutet der Umschlagtext („mit vielen bisher unveröffentlichten Quellen“) schon darauf hin, dass hier keine seichte Bettlektüre vorliegt. Das merkte ich dann auch schnell: „Amundsens letzte Reise“ ist ein Wolf im Schafspelz! Oder besser: Ein akribischer Tatsachenbericht im Gewand eines Romans.
Das Buch beginnt unmittelbar vor dem Start Amundsens und seiner Crew zum Rettungsflug über das arktische Meer. Doch bevor es dann losgeht und bevor wir überhaupt einen näheren Blick auf die aktuelle Lage werfen können, schweifen wir schon zurück ins Jahr 1901, zu Amundsens erster Expedition. Und die Wahl des dafür genutzten Schiffes. Und die wichtigen Personen, mit denen er dabei schon zu tun hat.
Eine Personencharakterisierung reiht sich an die nächste, unterbrochen von Rückblenden auf frühere Expeditionen – ebenfalls mit Personencharakterisierungen – und Beschreibungen von verschiedenen Flugzeugen und Schiffen, die am Nordpol im Einsatz sind. Nicht zu vergessen die gefühlt elendig lange Suche nach Finanziers für Amundsens Rettungsexpedition zu Beginn des Buches, inklusive Vorstellung seines Netzwerks an Freunden, Bewunderern und weiteren Helfern.
Und so zieht es sich durch einige zähe Kapitel. Spannung kann sich so nicht aufbauen – im Gegenteil. Die ständigen Ablenkungen vom eigentlichen Gegenstand des Buches – Amundsens letzter Reise – haben mich genervt.
Vorwissen wäre hilfreich!
Erst weit nach der Hälfte des Buches wurde mir auch erst die Tragweite der ganzen Geschichte bewusst. Im Rückblick wäre es hilfreich gewesen, gleich von Anfang an nebenbei in Wikipedia mitzuverfolgen, von wem und was genau die Rede ist. Allerdings reizen die Rückblenden auf frühere Expeditionen überhaupt nicht dazu, sich darüber zu informieren, denn eigentlich möchte man ja gerne gleich ins eigentliche Geschehen des Buches einsteigen.
Ich bin beispielsweise absoluter „Nordpol“-Laie und mir war überhaupt nicht bewusst, wie die Umstände einzuordnen sind. Hilfreich wäre gewesen, über diese Fragen Bescheid zu wissen:
- Was ist das Problem bei einem Flug zum Nordpol?
- Was bedeutet es, hier verloren zu gehen?
- Wie ist das Wetter?
- Wie viel zusammenhängendes Eis gibt es? Oder schaukelt es die ganze Zeit?
- Woher kommen Eisbären auf einer einzelnen Eisscholle?
- Können hier Schiffe durch das Eis brechen, oder können Flugzeuge landen?
- Wie kalt wird es? Was ist die Hauptgefahr für Menschen?
- Wie „schlimm“ ist es, hier wochenlang ausharren zu müssen?
All das ergibt sich zwar auch im Verlauf des Buches – aber eben nicht als Wissensgrundlage, die zu Beginn vermittelt wird, sondern mehr oder weniger aus dem Kontext. Und das macht die Vorstellung und Einordnung der Ereignisse wirklich schwierig.
Allerdings verstehe ich auch, warum Kristensen so weit ausholt. Für ein umfassendes Verständnis darüber, wie groß die Rettungsexpeditionen für die „Italia“ angelegt waren, ist es einfach nötig, einen Blick auf einen Großteil der Beteiligten und ihre Schiffe und Flugzeuge zu werfen.
Dass der Leser aber nicht so viel mit einem Vergleich einer Dornier Wal und einer Latham 47 anfangen kann, wenn ihm eine ganz grundlegende Einordnung in den Kontext von Technik und die Widrigkeiten der Umgebung fehlen, ist auch irgendwie klar.
Kampf ums Überleben
Der Überlebenskampf der abgestürzten Italiener dagegen ist etwas lebendiger und spannender – denn sie konnten schließlich später davon berichten. Diese Berichte fanden daher auch Eingang in Kristensens Buch. Amundsen dagegen konnte nicht berichten, niemand wusste, was in ihm vorgeht. Deswegen spricht er glaube ich auch kein einziges Wort im ganzen Buch. Kristensen schreibt wie eine „Stimme aus dem Off“, die einen Stummfilm kommentiert.
Das letzte Drittel des Buches gefiel mir dann aber doch besser. Subjektiv kommt es mir dann so vor, doch etwas näher am Geschehen dran zu sein. So sind wir etwa mit an Bord eines Eisbrechers, dessen Führung sich entscheiden muss, Kohle aus dem knappen Vorrat für die weitere Suche nach Vermissten aufzuwenden oder besser umzukehren.
Es folgen dann auch einige gut belegte Theorien dazu, was mit den nicht gefundenen Expeditionsteilnehmern passiert sein könnte. Das ist durchaus spannend. Insbesondere, wenn man sich vorstellt, dass da wochenlang Menschen auf Rettung warten – die einfach nicht kommt. Was ist wohl mit ihnen passiert? Das ist echt heftig.
Die Gedenkreden legten sich wie ein blasses Tuch über jeden Gedanken, dass sich die Mannschaft der Latham trotz allem noch lebend irgendwo auf dem Eis befinden könnte.
Amundsens letzte Reise, S. 384
Offenbar rätselte die Öffentlichkeit genauso herum, es schienen viele Gerüchte herumzuwabern und viele Menschen waren offenbar der Meinung, dass Amundsen doch wieder auftaucht. Schließlich ist er der größte Polarexperte seiner Zeit und niemand kennt sich besser im Gebiet aus als er. Das geschah aber nicht. Vielleicht wartet er noch immer auf einer Scholle..
Viele Namen, aber keine Nähe zu den Personen
Kristensen berichtet nur das, was auch tatsächlich bekannt ist. Fiktion hat hier keinen Platz – das ist auch gut so bei einem Sachbuch. Dadurch bleiben aber die Hauptakteure für den Leser größtenteils nur Namen und eine Aufzählung von früheren Erfolgen. Die Menschen dahinter sind kaum zu fassen.
Nach der Lektüre von „Amundsens letzte Reise“ kann ich noch immer nicht sagen, ob mir der Mensch Roald Amundsen sympathisch ist oder nicht. Er scheint eigenwillig und egozentrisch zu sein und die öffentliche Aufmerksamkeit als norwegischer Polarheld zu suchen. Als dieser blieb er wohl auch in Erinnerung, denn offenbar war Amundsen in Norwegen und Skandinavien extrem beliebt.
Neben Roald Amundsen und Umberto Nobile, dem Expeditionsleiter der abgestürzten „Italia“, werden auch weitere Namen immer wieder erwähnt. Hjalmer Riiser-Larsen etwa ist ein Luftfahrtpionier, dem 1926 zusammen mit Amundsen und Nobile der erste Überflug über den Nordpol gelang. Er hatte dann offenbar 1928 großen oder größten Anteil an der Suche nach Nobile und später Amundsen.
Die Tragik, dass dieses „Dreieck“ – Amundsen, Nobile, Riiser-Larsen – während der Expeditionen 1928 allesamt auf verschiedenen Seiten unterwegs waren, kommt im Buch gar nicht richtig rüber. Natürlich wird anfangs erwähnt, dass die drei sich kennen.
Doch die Vielzahl der am Anfang genannten Namen und der in aller Kürze vorgestellten früheren Expeditionen machten es jedenfalls mir unmöglich, alles auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es fiel mir schon schwer genug, einen Überblick über die Namen und Personen zu behalten.
Heldenmut, Ruhm und Geld
Davon abgesehen bietet „Amundsens letzte Reise“ aber fundiertes, tiefes Wissen über eine Zeit des heroischen Wettkampfes. Menschen der westlichen Welt wollten alle weißen Flecken der Erde endgültig erobern – es ging um Ruhm und Ehre! Das gleiche sahen wir ja dann auch in den dramatischen Ereignissen in der Eiger Norwand nur acht Jahre später.
Das Jahr 1928 war eine fieberhafte, geradezu surreal optimistische Zeit in der westlichen Welt. Nichts war unmöglich, alle wollten zu Helden werden. Viele der Teilnehmer wollten sich auszeichnen, sich Ehre, Ruhm und Medaillen verdienen – und hofften nicht zuletzt auf eine Belohnung in Form von Geld. Ohne dass es ausgesprochen oder geschrieben wurde, wussten sicher die meisten, dass General Nobile und die Teilnehmer der „Italia“-Expedition hoch versichert waren. … Die Versicherungsgesellschaften mussten astronomische Summen zahlen, sollte einer der Teilnehmer umkommen. Deshalb gab es auch hohe Belohnungen für die Rettung der Männer, besonders für Nobile.
Amundsens letzte Reise, S. 277
Kristensen zeigt, wie kommerziell Expeditionen damals schon waren: Verträge müssen eingehalten werden und es wurde genau geklärt, wer wann worüber exklusiv sprechen durfte. Und auch die Regierungen waren tiefgreifend beteiligt, denn die Erfolge, die ein Landsmann verbucht, lässt die ganze Nation gut dastehen.
Außerdem waren andere Rettungstrupps mit großen Flugzeugen und weltberühmten Piloten auf dem Weg in den Norden. Es ging schließlich darum, als Erste die Italiener zu finden. Nur das konnte als eine neue Heldentat angesehen werden.
Amundsens letzte Reise, S. 137
Ob es Amundsen wirklich nur um weiteren Ruhm ging, bleibt allerdings ungeklärt. Kristensen verweist darauf, dass Amundsen selbst einmal – zusammen mit Riiser-Larsen und weiteren Begleitern – drei Wochen im Eis verschollen war und die Ängste und Entbehrungen kannte. Das könnte auch ein Grund dafür sein, dass er den Abgestürzten helfen wollte. Außerdem habe er neben Nobile auch weitere Teilnehmer der „Italia“ gekannt. Wie es nun wirklich war – das werden wir wohl nie herausfinden.
Amundsens letzte Reise – Fazit und Wertung
Als Roman und Bettlektüre ist „Amundsens letzte Reise“ nicht zu empfehlen – dafür ist die Kost zu schwer. Wer aber mehr über die dramatischen Expeditionen des Jahres 1928 ins arktische Eismeer erfahren möchte, der sollte unbedingt zugreifen. Für ein Sachbuch ist das Werk sehr zugänglich, dafür sorgen die gelegentlichen erzählerisch eingebrachten, atmosphärischen Szenerien – und am Ende steht das noch immer ungelöste Rätsel, was mit den verschollenen Expeditionsteilnehmern geschehenen ist, die niemals gefunden wurden.
Kristensen trägt hier wirklich sorgfältig recherchierte Fakten und Fotos zusammen und gewährt uns einen sehr tiefen Einblick in die Landschaft der damaligen legendären Polarhelden und ihre Expeditionen. Profi-Tipp dazu: Falls dir Hintergrundwissen fehlt, lies es dir nebenbei an und nutze auch mal die Google Bildersuche, um dir Personen, Flugzeuge/Schiffe und Örtlichkeiten vor die Augen zu holen!
Was am Ende aber auf jeden Fall zutrifft: Die Geschichte der „Italia“ und das rätselhafte Verschwinden von Amundsen und seiner Crew weckt Neugierde auf ein Stückchen Erde, das sonst selten in der Aufmerksamkeitssphäre des Otto-Normal-Menschen auftaucht!
» So funktioniert die Buchbewertung
Ich bedanke mich bei der Randomhouse-Verlagsgruppe, die mir das Buch zur Rezension überließ. Meine Meinung zum Buch wurde nicht durch das geschenkte Exemplar beeinflusst!
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