Dieser Beitrag in der Berliner Volks-Zeitung am 30. Juni 1907 ist vermutlich mit einem Augenzwinkern zu lesen :D Das Ganze liest sich wie ein Drehbuch für eine Komödie: Es wird über einen Streit im italienischen Parlament berichtet, der sich „gestern“ ereignet hätte. Wer schon immer wissen wollte, wie man sich gepflegt auf „wilhelminisch“ beleidigt, der bekommt hier einen Eindruck.
Ich weiß nicht, ob sich so ein Streit zugetragen hat. Dass er genauso abgelaufen ist, wage ich zu bezweifeln – vielleicht wollte man hier ein wenig übertreiben. Oder man wollte das italienische Parlament ins Lächerliche ziehen. Für eine genauere Einordnung fehlt mir jedenfalls der Kontext ^^
Vor und nach diesem Beitrag jedenfalls gibt es nur ernste Themen, es handelt sich also nicht um die Satireseite des Blattes ^^ Die Berliner Volks-Zeitung richtete sich laut Wikipedia an Arbeiter und Kleinbürger und entwickelte sich mit ihren Sensationsmeldungen zu einem beliebten Boulevardblatt.
Schon die genaue Bedeutung der Einleitung über die streitenden Knigge und Galateo ist mir nicht ganz klar. Vermutlich ist es eine sarkastische Metapher: Knigge und Galateo sind das deutsche und italienische Synonym für Etikette bzw. Benehmen. Die Einleitung spielt wohl darauf an, dass das Benehmen im Parlament abhanden gekommen ist.
Aber lest selbst und bildet euch eine Meinung – egal, wie wahr das Ganze ist, oder eben auch nicht: Lesenswert ist diese Episode trotzdem :D
Der feine Ton im Parlament, Rom, Ende Juni
Der Onorevole (das heißt Abgeordnete) Knigge hat im italienischen Parlament seine Karte abgegeben, und sein Kollege, der Onorevole „Galateo“ (der italienische Knigge) hat sie ihm mit löblichem Eifer erwidert; vielmehr ist es eine ganze Legion von Knigges und Galateos, die sich gestern in den heiligen Hallen von Montecitorio (der Deputiertenkammer) gegenseitig Anstands- und fast auch Tanzstunden erteilten.
Transkribiert hab ich’s selber ^^
Der Onorevole Chiesa, ein feuriger Republikaner, gibt seine militärischen Theorien zum Besten.
Der Abgeordnete General Marazzi: Sie sagen eine Dummheit!
Abgeordneter Chiesa (mit Wucht): Und Sie sind ein Esel! (Großer Lärm)
Abgeordneter General Marazzi protestiert.
Abgeordneter Chiesa sucht den General eines Besseren zu belehren.
Abgeordneter General Marazzi unterbricht.
Abgeordneter Chiesa: Wollen Sie endlich schweigen?
Abgeordneter General Marazzi: Nein, nein!
Abgeordneter Chiesa fährt in seinen philosophischen Erörterungen fort und weist auf die zunehmende Degeneration der Bevölkerung hin. [WTF?! Einfach so mal ein Diss der Bevölkerung :D]
Abgeordneter Santini: Morbus! Morbus gallicus! (Gallische Krankheit!)
Abgeordneter Chiesa: Was schwätzen Sie da? Sie lustiger Witwer, Sie! (Gleichzeitig zieht der Abgeordnete Chiesa einen Hampelmann mit Santinis Zügen aus der Tasche und lässt ihn tanzen. Allgemeine Heiterkeit.)
Abgeordneter Santini springt auf mit geballten Fäusten: Sie sind ein Lazzarone [= Lump]. (Lärm auf der äußersten Linken.)
Abgeordneter Chiesa zuckt die Achseln.
Abgeordneter Santini will sich auf Chiesa stürzen: Sie sind ein Lump.
Die Abgeordneten der äußersten Linken nahmen Chiesa schützend in die Mitte.
Abgeordneter Chiesa: Lasst ihn doch schwatzen – wer wird Santini ernst nehmen!
Abgeordneter Santini in steigernder Erregung: Elender! Elender! Elender! (Beifall im Zentrum, Lachen auf der äußersten Linken.)
Abgeordneter Chiesa fährt fort zu reden, scheinbar ohne auf Santini zu achten.
Abgeordneter Santini: Elender! Elender!
Abgeordneter Bergamasco zum Präsidenten: Lassen Sie Chiesa revozieren [= die Aussage zurücknehmen]!
Abgeordneter Santini: Lassen Sie ihn revozieren – es ist unerhört! (Geheul.)
Kammerpräsident: Abgeordneter Chiesa, ich ersuche Sie, Ihre Worte zurückzunehmen.
Die ganze äußerste Linke (einstimmig): Nein, nein!
Kammerpräsident: Und auch Sie, Abgeordneter Santini, nehmen Ihre Worte zurück!
Rechte und Zentrum im Chorus: Nein, nein!
Der Präsident klingelt wie besessen, aber der Lärm lässt nicht nach.
Abgeordneter Chiesa: Ich habe nichts zurückzunehmen, man hat mich — (Geheul).
Präsident: Sie haben zuerst insultiert!
Rechte und Zentrum: Ja, ja!
Äußerste Linke: Nein, nein!
Präsident: Abgeordneter Chiesa, nehmen Sie zurück!
Abgeordneter Chiesa: Er hat mich provoziert, ich habe nur erwidert (Geheul im Zentrum.)
Abgeordneter Gaudenzi im drohenden Ton zu den Abgeordneten des Zentrums: „Kommt nach draußen, wenn ihr Mut habt!“ (Wutgeheul.)
Abgeordneter Chiesa: Draußen kann der Abgeordnete Santini machen, was er will.
Rechte und Zentrum: Nehmen Sie zurück! Nehmen Sie zurück!
Abgeordneter Chiesa: Fällt mir gar nicht ein! Ich habe nur auf eine Provokation geantwortet.
Äußerste Linke: Er ist wahr! Es ist wahr!
Rechte und Zentrum: Nein, nein!
Präsident begütigend: Hören Sie, Abgeordneter Chiesa, der Abgeordnete Santini hat nur mit Investiven [unklar, ob das stimmt und was das ist] auf Ihre Investiven geantwortet. Also ziehen Sie zurück.
Abgeordneter Chiesa: Nein doch!
Präsident: Ich rufe Sie auf zur Ordnung! (Beifall und Protest.)
Abgeordneter Chiesa: Rufen Sie nur, aber ich nehme darum noch nichts zurück, wenn nicht Santini zurücknimmt, was er gesagt hat.
Präsident: Sie müssen Ihre Worte anständigerweise zurücknehmen.
Rechte und Zentrum: Ja, ja! (Pause, während der die Streiter sich etwas beruhigen.)
Abgeordneter Chiesa (zögernd): Ich wiederhole, dass ich von Santini provoziert worden bin. (Lärm im Zentrum.)
Äußerste Linke: Jesuiten, Jesuiten! Seid still!
Abgeordneter Chiesa: Wenn Santini zurücknimmt, was er gesagt hat – – – (Neuer Lärm im Zentrum.)
Santini fächelt sich mit einem kleinen Fächer in großer Erregung Luft zu.
Abgeordneter Vicini (zur Rechten): Ihr könnt nur schreien! Wenn einer die Wahrheit sagt, so brüllt ihr!
Abgeordnter Giocomo Ferri: So sind Sie immer. Sie verstehen nichts und unterbrechen nur.
Abgeordneter Chiesa: Wenn der Abgeordnete Santini mich nicht beleidigen wollte, so bin ich gern bereit.
Chorus: Nehmen Sie zurück! Nehmen Sie zurück!
Abgeordneter Chiesa: Man sagt mir, der Abgeordnete Santini habe seine beleidigenden Ausbrüche gebraucht, folglich nehme ich zurück!
Allgemeiner lebhafter Beifall. Und in den Armen liegen sich beide …. Der Onorevole Knigge und der Onorevole Galateo….
Anmerkungen, die ich selbst in den Text eingefügt habe, befinden sich innerhalb von eckigen Klammern: [meine Anmerkung]. Sternchen (*, Asteriske) zählen hier als Auslassungszeichen und bedeuten, dass ich Teile des des Textes nicht entziffern/erkennen konnte. Die Anzahl der Sternchen stehen möglichst für die Anzahl der ausgelassenen Zeichen.
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