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Talk zur Unzeit – Der Sciencetalk

Talkmaster: Herzlich willkommen, verehrtes Publikum, ich freue mich, dass Sie heute wieder bei Talk zur Unzeit dabei sind. Und es lohnt sich, denn wir haben heute einen ganz besonderen Gast in der Sendung. Aristides kommt aus der kretischen Bronzezeit und ist exklusiv heute hier, um – wie ich hoffe – ein wenig von seinem Leben auf der Insel Kreta in der Antike zu plaudern. Wie Sie alle wissen, ist über das sogenannte Volk der Minoer sehr wenig bekannt. Leider fehlen uns schriftliche Quellen, um mehr über diese erste europäische Hochkultur herauszufinden. Aus diesem Grunde freue ich mich in ganz besonderem Maße, Aristides heute hier begrüßen zu dürfen! Ein lauter Applaus!

Aristides: Ja, vielen Dank. Ich freue mich auch, heute hier sein zu dürfen.

T: Aristides, wie fühlen Sie sich?

A: Danke der Nachfrage! Ich fühle mich gut. Eben erst wurde ich vom Flughafen hierher gebracht. Wissen Sie, Autos und Flugzeuge sind eine spannende Erfindung. Bei uns im minoischen Kreta ist das Reisen sehr viel aufwändiger und auch gefährlicher.

T: Ja, das glaube ich gern. Allerdings haben unsere Transportmittel auch ihre Nachteile. Aber wir sind heute nicht hier, um über die Umwelt zu sprechen. Erzählen Sie doch einmal über Ihren Heimatort. Sie kommen aus Koumasa im südlichen Kreta, an der Mesara-Ebene. Moment, es sollte gleich eine Überblickskarte Kretas eingeblendet werden. Ah, da ist sie ja.

Lage der Nekropole und Siedlung von Koumasa

 

A: Nun – das stimmt nicht ganz. Ja, die heutige Ausgrabungsstätte der Nekropole und meinem Heimatort ist nach dem kleinen Dorf Koumasa in der Nähe benannt. Es ist jedoch nicht identisch mit unserer Siedlung. Soweit ich weiß, ist es Ihren Archäologen bis jetzt nicht gelungen, den wirklichen Namen herauszufinden *lächelt*

T: Nein, in der Tat leider nicht. Würden Sie uns den Namen Ihrer Siedlung verraten?

A: Ich möchte Ihnen und der Wissenschaft ungern den Spaß verderben. Ich könnte Ihnen verraten, wie wir unser Dorf nannten – aber das werde ich nicht tun. Wenn ich Ihnen alles erzählen würde, wären Ihre Archäologen ja arbeitslos. Als Pre-Grieche kann ich über Arbeitslosigkeit keine Scherze machen.

T: Das ist schade, aber ich verstehe es. Der Beruf der Archäologen steht sowieso auf etwas wackligen Beinen. Haben wir denn eine Chance, den Namen Ihrer Siedlung durch wissenschaftliche Ausgrabungen herauszufinden? Haben Sie einen Hinweis hinterlassen? *zwinkert in die Kamera*

A: *lacht* Nein, das habe ich nicht. Allerdings kann ich auch nicht sagen, ob nicht die Generationen nach mir etwas haben fallen lassen, was Ihnen Aufschluss geben könnte. Ich bin durchaus beeindruckt von der Arbeit der Archäologen. Aus winzigen Scherben konstruieren sie Gefäße, aus Mauerüberresten Gebäude und aus wenigen Objekten überlegen sie sich ganze Geschichten über Kultplätze und Rituale. Ich bin wirklich schwer beeindruckt.

T: Mit den Kultplätzen spielen Sie sicherlich auf die tier- und menschenförmigen Gefäße und Gegenstände an, die um die Tholoi Ihrer Nekropole gefunden wurden. Sie nicken – gut, bleiben wir gleich bei der Nekropole. Die Fundgegenstände datieren in Frühminoisch II, zu dieser Zeit ist Ihre Nekropole also entstanden. Wann haben Sie gelebt?

A: Diese Frage ist für mich nicht einfach zu beantworten. Sie teilen die Zeit relativ willkürlich in Epochen ein, frühminoisch, mittelminoisch und spätminoisch. Das Ganze rechnen Sie dann um in ein Zeitsystem, das sich an der Geburt eines Mannes orientiert, der etwa 3000 Jahre nach mir geboren wurde, plus minus 500 Jahre. Oder alternativ sagen Sie, ich hätte in der Vorpalastzeit gelebt. Das stimmt, zu meiner Zeit gab es auf Kreta keine Paläste. Dennoch, das bedeutet, dass Sie als Dreh- und Angelpunkt die minoischen Paläste definieren, und man hat entweder während dieser Zeit oder davor oder danach gelebt. Meiner Meinung nach ist das ein wenig diskrimierend. Auch wenn wir noch keine Paläste hatten, heisst das nicht, dass unsere Kultur schlechter gewesen wäre.

T: Damit haben Sie absolut recht. Die Epochenfrage und die Kritik an den Epocheneinteilungen sind ein elementares Thema in der Forschung, und mir ist natürlich bewusst, dass sie den tatsächlichen Zuständen niemals gerecht werden können. Als Vergleichspunkt wird nur ein einziger Aspekt herausgepickt, meinetwegen die Paläste, und daran wird dann versucht, Epochen zu definieren. Bei der früh-, mittel- und spätmionischen Zeit diente als Vergleichsaspekt ja die Keramik. Natürlich ist Keramik und Palastgebäude nicht alles, was eine Gesellschaft ausmacht. Diese Epochisierung dient nur dem einfacheren Überblick. Natürlich können wir nicht jede einzelne Scherbe auf ein Jahr oder auch nur ein Jahrhundert datieren, daher bedienen wir uns dieser Epochen. Genau genommen ist unsere Zeitrechnung ja auch nichts anderes: vor Christi Geburt und nach Christi Geburt, daran wird alles gemessen. Zumindest in der globalisierten Welt.

A: Also gut. Wenn die Kritik Ihnen nicht neu ist, belassen wir es dabei. Trotzdem kann ich Ihnen mein Geburtsjahr nicht mitteilen – eine Umrechnung unseres Systems in das „Christi-Geburt“-System ist mir zu kompliziert. Machen wir es anders. Sie haben die 3 Tholoi unserer Nekropole ausgegraben, und auch das rechteckige Gebäude, in dem ihr auch Knochen gefunden habt. Ich kenne das genauso. Wir haben die drei Tholoi und das rechteckige Steingebäude. Jetzt dürfen Sie selbst eine Umrechnung vorschlagen.

T: *lacht* Das wird so einfach nicht sein. Datieren wir Sie einfach in FM III, hier sollten alle 4 Gräber in Benutzung gewesen sein.

A: Sehen Sie, das meine ich, wenn ich sage, dass ich die größte Bewunderung für die Wissenschaft hege. Wir reden hier über eine Zeit, die grob gesagt seit etwa 5000 Jahre vergangen ist, und dennoch wissen Sie gut darüber Bescheid.

T: Leider alles andere als gut. Denken Sie daran, dass wir nicht einmal den Namen Ihres Ortes kennen. Aber kommen wir zurück auf die Nekropole. Wir wissen, dass Sie Verstorbene in den Tholoi bestattet haben, und nach einigen Jahren, nachdem sie vollständig verwest sind, wurden sie umgebettet oder auch nur zur Seite geschoben. – Ehm, ist dieses Thema ein Problem für Sie? Es geht hier schließlich um Verstorbene, die Ihnen nahestehen könnten.

A: Das ist kein Problem für mich. Natürlich bin ich traurig über den Tod mancher Verwandten. Aber ich habe genug Zeit, das zu verarbeiten. Das ist ja das Schöne an Primär- und Sekundärbestattung. Wir glauben, dass der Zeitpunkt des Todes, also der Moment, von dem an ein Mensch nicht mehr atmet, sich nicht mehr bewegt, nicht mehr aus eigener Kraft Wärme abstrahlt, nicht der wirkliche Tod ist. Schließlich verliert der Mensch ja nicht sofort sein Aussehen und seine Gestalt, oder? Er ist immer noch da. Erst, wenn nur noch die .. Knochen übrig sind, ist die Person nicht mehr erkennbar. Erst dann ist sie nicht mehr da, sie ist weg, sie ist tot. Die Zwischenzeit ist anfangs schwierig. Man vermisst seine geliebte Person, aber man weiss, dass sie noch da ist. Man bräuchte ja nur die hundert Meter zur Nekropole gehen, dann könnte man sie sehen. Das hilft einem sehr bei der Verarbeitung. Und nach ein paar Jahren ist der Schmerz abgedumpft. Es ist dann leicht, die zurückgebliebenen Knochen rüde zu behandeln, denn diese Reste sind nicht mehr der gestorbene Mensch.

T: Das klingt sehr logisch und hat sicherlich sein Gutes. Für unsere Gesellschaft erscheint diese Praxis allerdings etwas – entschuldigen Sie bitte – delikat. Wie Sie wissen, bestatten wir unsere Toten üblicherweise in der Erde. Ein Grabstein markiert die Stelle und auf dem Grab werden schöne Blumen gepflanzt oder Steingärten angelegt. Der hässliche Prozess des Verfalls ist bei uns aus den Augen, aus dem Sinn.

A: Ich glaube, da hat Ihre Gesellschaft etwas aufzuarbeiten. Diese Verfallsprozesse sind etwas ganz natürliches und gehören zum Leben dazu. Ich fände es schwierig, auf Ihre Weise mit dem Tod umzugehen.

T: Schon allein durch Ihre geschilderten Ansichten zu diesem Thema haben Sie zumindest mir heute aufschlussreiche Ideen mitgeteilt. Wie stehen Sie jedoch dazu, dass Grabbeigaben von den Toten gestohlen wurden? Für uns wäre es ein Sakrileg, einem Toten Gegenstände aus dem Grab zu nehmen – mal davon abgesehen, dass wir unseren Toten üblicherweise keine Beigaben beilegen.

A: Da bin ich nun überrascht. Was machen Sie dann mit den Gegenständen des Verstorbenen, wenn er begraben ist? Benutzen Sie sie weiter? Ist das nicht auch so etwas wie das sogenannte Stehlen von Beigaben, damit man sie weiter benutzen kann? Sehen Sie. Die Gegenstände eines Verstorbenen gehören dem Verstorbenen. Sie waren ihm zu Lebzeiten wichtig, daher geben wir sie unseren Toten mit auf den Weg in die andere Welt. Wenn sie erst einmal in der anderen Welt sind, dann sind die sterblichen Überreste nicht mehr „die Toten“, sondern Knochen, und Knochen benötigen keinen Schmuck oder Werkzeug. Daher ist es absolut legitim, die Gegenstände wegzunehmen. Die Lebenden können die Dinge immerhin noch gebrauchen.

T: Ich sehe schon, wir gleiten heute etwas ins Philosophische ab. Um unser Publikum nicht abzuschrecken, möchte ich gleich mit dem Thema Tod abschließen, aber beantworten Sie mir doch noch eine letzte Frage dazu: Hatte Ihre Gesellschaft Angst vor dem Tod oder den Toten? Die Tholoi waren ja nicht weit von der Siedlung entfernt. Haben Sie die Nekropole hin und wieder besucht?

A: Nun, eine gewisse Furcht haben wir schon. Ihnen wird aufgefallen sein, dass die Eingänge der Tholoi von der Siedlung weg zeigen. Wir wissen nicht genau, was mit einem Verstorben passiert, während er seinen Weg ins Jenseits geht. Natürlich glauben wir nicht, dass Leichen auferstehen und herumwandeln, aber es kann auch nicht schaden, sie nicht dazu zu reizen. Ein wenig unheimlich wäre mir schon, wenn ich mir vorstelle, dass man direkt vom Dorf aus in eine Tholos hineinschauen kann. Natürlich sind die Eingänge meistens verschlossen, es geht hier mehr um theoretische Ängste, die theoretische direkte Sichtlinie eben. Der Eingang in die Tholos ist zugleich ein Ausgang aus der Tholos, und wenn der Ausgang direkt Richtung Siedlung zeigt, dann .. Sie wissen schon, das ist unheimlich.

T: Auch in unserer Gesellschaft ist uns dieses Thema nicht ganz geheuer. Viele Menschen haben Angst davor, nachts einen Friedhof zu betreten.

A: Sehen Sie. Und das, obwohl Sie alle genau wissen, dass ein verstorbener Mensch nicht mehr aufstehen kann.

T: Wir haben nun leider noch immer nicht über so vieles andere gesprochen und leider läuft uns die Zeit davon. Wie hat Ihre Gesellschaft funktioniert, gab es Oberhäupter in der Gemeinschaft? An welche Götter glaubten Sie? Wie war die Rolle der Frau? Stand Ihre Siedlung über Kreta hinaus mit Mittelmeerkulturen in Kontakt? Welche ..

A: Ich weiss, dass Sie sehr viele Fragen haben. Aber bitte bedenken Sie – ich bin der einzige wahrhaftig sprechende Vertreter einer Hochkultur, die über mehrere Jahrtausende existierte. Dazu bin ich im Grunde auch nur ein einfacher Bauer, der mit Ziegenzucht und ein wenig Getreideanbau seinen Lebensunterhalt verdient. Ich wäre an Ihrer Stelle genauso neugierig. Aber bitte bedenken Sie Folgendes: Kann ein einziger Mensch für eine ganze Zivilisation und Kultur sprechen, für die ganze Zeit, die sie existiert hat? Kann ich objektiv sein, und können Sie meine Aussagen als objektiv akzeptieren? Wenn ich Ihnen sage, dass es so oder so war, würden mir meine sogenannten minoischen Mitmenschen dann zustimmen, selbst wenn ich Ihnen schwöre, die Wahrheit zu sagen? Das ist, wie wenn ein Archäologe aus einem ihm unbekannten Gefäßhenkel das komplette Gefäß rekonstruiert, inklusive Farben und Mustern, und dann sagt, dass Gefäße dieser Art in jedem einzelnen Haushalt verbreitet waren, auf ganz Kreta. Aus einem einzigen Teilchen. Das ist unmöglich.

T: Da haben Sie wohl recht, sehr vernünftig von Ihnen. Das ist .. sehr schade .. Aber natürlich haben Sie recht. Ich freue mich dennoch, die Gelegenheit gehabt zu haben, mit Ihnen über das minoische Kreta zu sprechen. Fliegen Sie gleich zurück in die Heimat?

A: Ich fliege morgen zurück, ja. Durch diese enorm vielen Menschen in der Stadt fühle ich mich etwas bedrängt. Ich frage mich, wie viele Tholoi nötig sein müssten, um alle Menschen dieser Großstadt damit zu versorgen. Aber das Problem haben Sie ja nicht.

T: Das ist richtig. Verehrtes Publikum, nochmals tosenden Applaus für Aristides aus dem frühminoischen Kreta, der exklusiv für unsere Sendung eingeflogen wurde! Schalten Sie auch nächste Woche wieder ein, wenn wir in direkten Funkkontakt mit dem Marsrover Curiosity treten. Live per Kamerazuschaltung werden wir mit dem Roboter über seine aktuelle Mission talken! Auf Wiedersehen!

Anmerkung der Redaktion: „Die Tholosgräber von Koumasa und Agia Triada – Zwei frühminoische Nekropolen auf Kreta“ ist der Titel meiner Semester 2-Hausarbeit in Archäologie, die Ende August fertig geworden ist :D Also hab ich mir aus Spaß ein Interview ausgedacht und noch fix ein Logo gephotoshopped und dazugeklatscht. Wünsche Aristides alles Gute!

Kommentare

3 Antworten zu „Talk zur Unzeit – Der Sciencetalk“

  1. Stefan Kies

    Oh, wow da hast Du Dir aber viel Mühe gegeben! Und es ist lustig, worauf man so stösst, wenn man das Internet nach Aristides druchstöbert..
    lg Stefan

    1. Ravana

      Hehe, danke schön :D

    2. Ravana

      Ach ja…. Nach was für einem Aristides hast du denn gesucht? Hab mir den Namen fast willkürlich aus griechischen Babynamenlisten ausgesucht :-D

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