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Flüchtlinge aus Afrika: Von Brot und Kuchen

Marie Antoinette

Mit Spannung verfolgte ich die Berichterstattung über das Drama mit der Sea Watch 3 und ihrer Kapitänin Carola Rackete, die vorgestern ohne Erlaubnis im Hafen von Lampedusa anlegte, um die vor zwei Wochen auf dem Meer vor Libyien aufgesammelten Flüchtlinge an Land zu bringen. Die Kapitänin wurde dann umgehend von den italienischen Behörden verhaftet und ihr drohen hohe Geldbußen oder sogar eine mehrjährige Gefängnisstrafe.

Sea Watch bekämpft Symptome

Ich bin mir selbst noch nicht ganz darüber im Klaren, was ich von der Sea Watch-Strategie halten soll: Auf Flüchtlinge warten und sie schon kurz nach dem Beginn der Reise einsammeln, bevor sie in Seenot geraten können.

Der Vorwurf lautet dann immer wieder, dass die Retter den Schleppern in die Hände spielen: „Man muss ja im klapprigen Schlauchoot nur ein paar Kilometer aufs Meer fahren und die Europäer sammeln die armen Menschen dann schon ein.“ Dann brauchen sich die Schlepper schon nicht die Mühe zu machen, die Flüchtlinge bis kurz vor Italien zu schippern. Offenbar ist da auch etwas dran, denn da NGOs wie Sea Watch immer mehr Probleme mit den Behörden bekommen und seltener unterwegs sind, müssen die Schlepper ihre Strategien ändern.

Organisationen wie Sea Watch geht es natürlich nicht darum, den Schleppern zu helfen. Nein, aber sie können es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, dass im Mittelmeer tagtäglich Menschen auf ihrer Flucht nach Europa ertrinken. Sie wollen nichts anderes als Leben retten. Allerdings bekämpfen sie damit das Symptom und tragen nicht zur Lösung der eigentlichen Ursache bei: Dass Menschen aus ihrer Heimat fliehen und nach Europa kommen wollen. Gar nichts tun und die Menschen ertrinken lassen ist aber auch keine Lösung.

Sea Watch 2
Sea Watch 2 (nicht 3) von Nutzer „Hol and“/ Quelle: Wikipedia

Blick in die FOCUS-Kommentare: „Verbrennt die Hexe!“

Wie gesagt, daher bin ich zwiegespalten. Als ich nun einen Focus-Artikel über die Festnahme der Kapitänin las, erwartete ich daher, dass sich den in Leserkommentaren unten drunter ebenfalls ein gemischtes Bild findet. Was ich jedoch nicht erwartete, war die fast 100 %ige Zustimmung der Leser zur Festnahme.

Ungefähr so sieht das Meinungsbild aus: „Richtig so, ab in den Bau mit ihr, Kapitänspatent entziehen, die kriegt was sie verdient, Exempel statuieren, Leute wie die sorgen dafür, dass Deutschland von noch mehr Fremden ausgesaugt wird, die Italiener haben alles richtig gemacht, ich wünschte, bei uns würde auch so hart durchgegriffen werden“.

Kaum jemand stand auf Seiten der Sea Watch-Aktivisten und ihrem Beitrag dazu, dass weniger Menschen im dem Mittelmeer sterben.

Davon war ich doch ein wenig schockiert und fragte mich, warum die Menschen so reagieren. Klar, die Flüchtlingsfrage ist hoch umstritten, und zwar in ganz Europa – und auch nicht erst seit gestern. Rechtspopulisten wie die AFD konnten damit ganz groß rauskommen, und daher sollte es mich nicht sehr wundern, dass so viele der Meinung sind, dass jemandem, der noch mehr Flüchtlinge nach Europa bringt, fast schon blanker Hass entgegen schlägt.

Probleme der mitteleuropäischen Durchschnittsbürger

Wir in Mitteleuropa werden mit vielen Sorgen konfrontiert. Steigende Mieten, steigende Energiepreise und vom Lohn kommt sowieso etwas mehr als die Hälfte auf dem Konto an. Das sind die Dinge, die viele von uns auf dem Schirm haben, weil sie uns selbst betreffen. Dazu die nicht abreißenden Berichte von armutsgefährdeten Rentnern, Alleinerziehenden und Kindern sowieso, über die sich stetig vergrößernde Schere zwischen Arm und Reich und den langsam abrutschenden Mittelstand.

Das sind absolut berechtigte Sorgen und Nöte, die es zu lösen gilt, um die Lage der Menschen jetzt und in Zukunft zu verbessern. Daher kann ich irgendwie verstehen, dass man voller Furcht auf „Fremde“ schaut, die bei uns und von unseren Abgaben leben wollen/dürfen.

Und jetzt das ganz große ABER. Denn diese Probleme reichen nur bis zu den Landesgrenzen. Wir leben aber in einer globalisierten Welt und nutzen tagtäglich Produkte, die von woanders importiert wurden. Viele uns verdienen auch ihr Geld damit, eigene Produkte und Leistungen international anzubieten. Deswegen können wir nicht einfach das Gute gerne nehmen und das Schlechte, also die Probleme der restlichen Welt, einfach ausblenden.

Probleme der Menschen in Afrika, oder anders: Fluchtgründe

Der afrikanische Kontinent hat mehrere Probleme, die viele Menschen zur Flucht bewegen – hier mal kurz angeteasert:

  • Bürgerkriege und/durch instabile Regierungen – oftmals mit indirekter Unterstützung des Westens, etwa durch Waffenexporte, oder auch Unruhen, die bis auf die von Kolonialherren strikt gezogenen Grenzen zurückgehen, wodurch sie verfeindete Stämme in eine Nation zwangen
  • Entwicklungshilfen wecken Begehrlichkeiten: Clans und Warlords reißen sich um dieses „leicht verdiente Geld“, das so nicht bei den Bedürftigen ankommt und, schlimmer noch, weitere Bürgerkriege fördert
  • Armut, einhergehend mit Hungersnöten und Krankheiten. Das Ganze verschärft durch den Klimawandel – an dem ebenfalls die Industrienationen Schuld tragen
  • Fehlendes Auftreten in der Weltgemeinschaft: Die westlichen großen Nationen dominieren die Welthandelsgesellschaft (WTO), so dass Afrika hier nicht mitbestimmen kann (ist auch schwer, in der WTO mitzumischen, wenn es ständig Bürgerkriege gibt)
  • Plünderung afrikanischer Ressourcen durch den Westen, wie Fische und seltene Erden – und die Afrikaner werden dafür schlecht bezahlt oder einfach ihrer Lebensgrundlage beraubt

Kurz und gut: Unser Wohlstand ist zumindest teilweise mitschuld daran, dass es den Menschen in Afrika schlecht geht und sie fliehen wollen oder sogar müssen, weil ihr Leben in Gefahr ist.

„Geburtsrecht“ ist einfach reines Glück

Nur: In Europa wollen wir nunmal nichts von dem abgeben, von dem wir sowieso selbst zu wenig haben. „Zu wenig“ ist natürlich relativ – im Vergleich zu den oft lebensbedrohenden Sorgen der Afrikaner sind unsere Probleme nun wirklich Peanuts. Sagen wir lieber „gefühlt zu wenig“. Immerhin ist ein Teil der Abgaben, die uns auf dem Lohnzettel so ärgern, dafür da, dass Unfälle und Krankheiten uns nicht in die Armut treiben, dass wir auch ohne Arbeit nicht hungern müssen und theoretisch auch im Alter ein wenig Geld bekommen.

Dadurch, dass wir als Europäer auf die Welt kamen, haben wir das Glück, immer mehr zu haben als der größte Teil der restlichen Weltbevölkerung. Und dadurch können wir deren Probleme auch gar nicht verstehen. Wir tendieren dazu, den Flüchtlingen reine Gier zu unterstellen. Sie wollen unseren Wohlstand schmälern oder wahlweise auch „das letzte bisschen Geld aus der Tasche ziehen“. Sollen sie doch bleiben wo sie sind, was schert es uns, ob Menschen in Afrika sterben, weil wir von unserem Wohlstand nicht abgeben wollen! ….

Das erinnert mich an etwas.

„Du hast kein Brot? Dann iss‘ doch Kuchen!“

Königin Marie Antoinette mit aufwändigem Barockkleid
Marie-Antoinette von Österreich, Königin von Frankreich, von Louise Élisabeth Vigée Le Brun (Quelle: Wikipedia)

Ein bekanntes Zitat, das fälschlicherweise der französischen Königin Marie Antoinette zugeschrieben wird, geht so: „Wenn sie kein Brot mehr haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!“ Marie Antoinette soll das gesagt haben, als ihr zugetragen wurde, dass die Pariser Bevölkerung hungere.

Es ist gerade völlig egal, ob sie das so gesagt hat, oder nicht – das Zitat steht stellvertretend dafür, dass der Adel über Jahrhunderte die Leibeigenen und niederen Stände unterdrückte (sorry MA für die Instrumentalisierung..). Er verdankte seinen Wohlstand der Tatsache, dass er ihn nicht mit dem größten Teil der restlichen Bevölkerung teilen musste. Denn man ist nur dann reich, wenn die meisten anderen weniger haben.

„Teilen bedeutet weniger für mich“

Genauso ist es auch mit Afrika und den anderen armen Regionen der Welt. Es kann gar nicht im Interesse der reichen Nationen liegen, den armen Ländern zu mehr Wohlstand zu verhelfen. Denn das könnte unser Planet gar nicht leisten – denn viele Ressourcen sind begrenzt. Wir leben derart verschwenderisch, was Lebensmittel, Energie und auch Luxus und Komfort betrifft (damit meine ich auch die Mango und Avocado, die wir unter Ausbeutung der Bauern aus Südamerika einfliegen lassen), dass nur ein kleiner Teil aller Menschen davon profitieren kann.

Ein großer Teil dagegen hat nicht einmal Zugriff auf sauberes Trinkwasser oder auf grundlegende Hygienemaßnahmen. Würde jeder Mensch so viel Abfall produzieren wie ich und jeder andere der westlichen Welt, dann hätten wir Müllberge bis zum Mond. Bzw. der Planet wäre bereits überschwemmt, weil wir mit dem viel höheren CO²-Ausstoß schon längst das Klima an den Rand des Backofens gebracht hätten.

Neinnein, je weniger am Festbankett teilnehmen, desto länger reichen die Köstlichkeiten.

„Von wegen Krieg, die wollen doch nur Smartphones“

Und passend am Kuchen-Zitat ist auch, dass der Reiche kaum versteht, welche Probleme der Arme hat. Hunger? Ja, was ist denn das? Wenn es kein Brot gibt, dann sollen sie eben Kuchen essen – nur, dass sich zu Marie Antoinettes Zeiten die meisten Pariser eben Kuchen erst recht nicht leisten konnten. Das ist ungefähr so, wie wenn dir jemand aus seinem weitläufigen Anwesen heraus sagt: Du kannst dir deine Miete nicht leisten? Dann kauf dir doch ein Haus, hab dich doch nicht so!

Genauso müssen auch viele Kommentatoren unter dem verlinkten Beitrag denken. „Die wollen doch hier nur Sozialhilfe abgreifen und uns Arbeit und Frauen wegnehmen.“ Dass die Menschen dort unten von Krieg, Folter, Hunger und Krankheiten bedroht sind – das glaubt man ihnen gar nicht.

Das ist eben auch das Privileg der Reichen: Man sieht nur den eigenen Palast, nicht aber die Bruchbuden der Armen in der hintersten stinkenden Straße, denn da geht man ja nicht hin. Wenn man es täte, wüsste man, dass es hier nicht um Kuchen oder Sozialhilfe geht, sondern um die Lebensgrundlage.

An deren Bröckeln wir eine kleine, indirekte Mitschuld tragen. Aus diesem Grund finde ich es eigentlich „unsagbar“ zu sagen, dass „die gefälligst draußen bleiben sollen“.

Der Irrglaube vom Geburtsrecht

Genau wie in den vergangenen Tausenden Jahren entscheidet auch heute der Zufall, wer Glück hat und wer Pech. Per Geburtsrecht haben wir ein Anrecht auf unseren Wohlstand, und wer Pech hat, kommt eben im Bürgerkrieg zur Welt.

Das ist in höchstem Maße ungerecht, und ich kann nicht glauben oder verstehen, wie so viele Menschen das für vollkommen in Ordnung halten. Und sogar offen sagen, dass es auch so bleiben soll. Das sind genau die gleichen Leute, deren eigenen Vorfahren noch vor 200 Jahren selbst wahrscheinlich zu den Armen gehörten, die von Großindustriellen oder Kaufmannsdynastien ausgenutzt wurden.

Stich von der Hinrichtung Marie Antoinettes 1794 in Paris
Hinrichtung Marie Antoinettes am 16.10.1793 (Ausschnitt), von Isidore Stanislas Helman (1794) / Quelle: Wikipedia

Würde heute irgendjemand sagen, dass Kapitalismus oder Lehnsherrschaft etwas Gutes ist? Ja, die Bahlsen-Erbin, und dafür erntete sie einen gepfefferten Shitstorm. Nur die wenigsten profitieren von diesen Systemen, und alle anderen lamentieren. Wieso sollten diese Reichen denn alles haben dürfen, nur weil sie in diese bestimmte Familie geboren wurden, und wir nicht? Auf das Schafott mit ihnen! – Dort verlor übrigens auch besagte Marie Antoinette samt königlichem Gatte im Zuge der französischen Revolution ihren Kopf.

Die feucht-fröhliche Party ist zu Ende

Okay, das führte nun etwas weit weg von der Sea Watch 3 und der Debatte darüber, was wir mit den Flüchtlingen machen. Meiner Meinung nach dürfen wir uns nicht verbarrikadieren, denn dafür, dass wir in einem deutschen Krankenhaus und nicht in einer libyschen Baracke zur Welt kamen, können wir nichts. Wir haben nicht das Recht, andere zu Armut, Folter oder Tod zu verurteilen.

Aber natürlich geht es auch nicht, alle Armen dieser Welt aufzunehmen und zu speisen. Das zeigte der Aufstieg der AFD, die wohl nur durch die Flüchtlingskrise seit 2015 und die dadurch geschürte Angst einen solchen Aufwand bekam. Je mehr Flüchtlinge hier, desto größer die Angst der Menschen davor, dass ihnen etwas weggenommen wird, und desto mehr Wähler für die AFD. Und eine ausländerfeindliche rechtspopulistische Regierung würde nicht nur zu rigoroser Abschottung führen, sondern – wir als Deutsche kennen es – sie könnte Folgen haben, die die meisten gar nicht wollen, selbst die AFDler vermutlich nicht.

Also … Was kann man tun? Zur Zeit habe ich das Gefühl, dass die jahrzehntelange, gedankenlose feucht-fröhliche Party der westlichen Welt vorbei ist. Das Leben in Saus und Braus führte zu einem Kater und jemand muss das verursachte Chaos beseitigen. Wir müssen das endgültige Kippen des Klimas verhindern und uns Konzepte überlegen, wie wir mit den Folgen, die unser Wohlstand verursacht hat, umgehen können.

Wie geht es weiter?

Damit meine ich nicht nur Milliarden Tonnen Plastik im Meer und riesige Migrationsbewegungen, weil Regionen durch die Erderwärmung unbewohnbar werden, sondern auch das Aussterben Millionen wichtiger Arten – angefangen bei Bienen und Insekten über verschiedene Vogelarten bis hin zu Eisbären.

Und irgendwie scheint niemand der „World Leaders“ einen ernsthaften Plan zu verfolgen oder verfolgen zu können – denn Strenge sehen die Bürger nicht gern. Wer wirklich seinen Kater überwinden und alle zum Aufräumen auffordern will, der macht sich bei allen anderen unbeliebt, die lieber noch weiterfeiern wollen. Hilfsorganisationen, die zwar ein gutes Ziel im Blick haben – das Retten von Menschenleben – müssen deswegen, so pervers es auch ist, mit Anfeindungen rechnen. Die Welt ist echt verrückt…

Kommentare

4 Antworten zu „Flüchtlinge aus Afrika: Von Brot und Kuchen“

  1. Sven aus Reihe 11

    Huhu Debbie, ein schweres Thema hast Du Dir da rausgesucht. Ich sehe es ähnlich.

    Nach dem Gesetz der Polarität, führen diese Friedens- und Rettungsaktionen zu mehr Hass und letztendlich Krieg. Je heller jemand leuchtet, desto eher wird sich jemand finden, der denjenigen abgrundtief zu hassen beginnt.

    Im „Club der toten Dichter“ kommt die Frage nach dem Sinn des Lebens. Und der Lehrer beantwortet sie sinngemäß mit: „Damit das Spiel zwischen Gut und Böse weiter gehen kann, und Du Deinen Vers dazu beitragen kannst“. Das fand ich als Konklusion ganz passend.

    Die Lösung des Konfliktes ist vielleicht der Konflikt.

    1. Ravana

      Hey Sven,
      danke für deinen Kommentar :-) „Je heller jemand leuchtet, desto eher wird sich jemand finden, der denjenigen abgrundtief zu hassen beginnt“ – das befürchte ich bei Greta Thunberg auch. Ich hoffe, sie passt gut auf sich auf.
      Herrje, immer mehr Konflikte.. Wie sieht die Welt wohl in 50 Jahren aus?

  2. Bärbel Rohloff

    Hallo Debbie,
    über dein QGIS Tutorial auf YouTube bin ich auf dein großartiges Blog gestoßen und statt mich mit einem eigentlichen Anliegen (Georeferenzierung meines Kartenbestands, Tabellen und SQL) zu beschäftigen, habe ich mich in deinen unheimlich schön geschriebenen, gut überlegten, gut recherchierten und reflektierten Beiträgen vergraben. Anscheinend haben wir viele ähnliche Interessen und Sichtweisen – in Sichtweite :-)…….

    Viele Grüße Bärbel

    1. Ravana

      Liebe Bärbel,
      vielen Dank für deinen schönen Kommentar, über den ich mich wirklich sehr freue :D Es ist eine wunderbare Bestätigung, so weiterzumachen! Ich hoffe natürlich, dass du auch ein bisschen was zur Georeferenzierung gefunden hast :D
      Ganz liebe Grüße
      Debbie

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