Ich bin nicht in der Lage, mich konstruktiv mit Kritik auseinander zu setzen, weiß auf gute Argumente geistig keine Antwort, verbiete erbärmlicherweise offene und freie Diskussionen, habe radikalisierte Ansichten und bin eine Drohne der Mainstream-Medien, die nach Nordkorea gehen sollte.
Uiuiui, da ist ja was los! Was war passiert? Eine Geschichte, die sich vor ein paar Wochen auf meinem Discord-Server abgespielt und mich viele Nerven gekostet hat: Ich bin erstmals mit Anhängern aus dem Querdenker-Milieu zusammengeprallt, und das ist nicht gut ausgegangen. Die Sache gipfelte letztlich in den Vorwürfen, die oben zu lesen sind. Aber immerhin hab ich dabei viel gelernt und noch viel mehr beängstigende Erfahrungen gemacht.
Querdenker, Selbstdenker, Freidenker – Was ist das?
Ich weiß nicht, ob es einen Oberbegriff für die neue Qualität von Verschwörungstheoretikern gibt, die letztes Jahr im Zuge der Corona-Pandemie aufgekommen sind. Da gibt es zum Einen die Initiative „Querdenken 711“, also Querdenker, die gegen die Corona-Maßnahmen protestieren und dabei auch mit „echten“ Verschwörungstheoretikern (Reichsbürgern?) und Personen aus dem klar rechten Milieu demonstrierten (Aufschrei: Demonstration im August in Berlin).
Aber nicht jeder, der sich weigert, im Supermarkt eine Maske zu tragen und kein gültiges Attest vorlegen kann, oder glaubt, dass die Pandemie eine Erfindung ist, ist Teil der Querdenken-Initiative. Auf Twitter habe ich schon Selbstbezeichnungen wie „Selbstdenker“ und „Freidenker“ gesehen. Die Gegenseite bezeichnet sie als „Covidioten“ oder „Leerdenker“. Der Einfachheit halber fasse ich hier alles unter „Querdenker“ zusammen.
Was ich jedenfalls nun durch eigene Erfahrung gelernt habe: Diese Leute sind nicht dumm, jedenfalls nicht grundsätzlich. Die beiden, mit denen ich zu tun hatte, haben sich sehr pointiert und überlegt ausgedrückt. Beide sind der Meinung, dass wir alle von den Medien manipuliert und wissentlich von der Regierung verarscht werden. Und sie tragen ein ganz klares Narrativ vor sich her: Ich bin klug, klüger als die meisten. Deswegen bilde ich mir meine Meinung selbst.
Sich eine eigene Meinung zu bilden ist nicht grundsätzlich schlecht. Im Gegenteil. Als einer der beiden Querdenker mir das sagte – hier ahnte ich noch nicht, was auf mich zukommt -, war ich sogar erleichtert. Super, jemand, der nicht dem Schmarrn der BILD-Zeitung nachplappert, sondern der hinterfragt. Dass dabei allerdings nicht nur niederträchtige BILD-Headlines hinterfragt werden, sondern auch seriöse Wissenschaftler – das hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht gedacht.
In diesem Beitrag geht es um meinen eigenen Erfahrungsweg mit Querdenkern. Und wie ich gelernt habe, zu fürchten, dass wir es keineswegs mit ein paar wenigen Spinnern zu tun haben, die an Klangschalen und Reptiloiden glauben.
Communities zeigen einen Querschnitt der Gesellschaft
Kurz zum Hintergrund. Seit ein paar Monaten habe ich auf Discord, einer Mischung aus Sprach- und Textchat sowie Forumselementen, einen eigenen Server. Eine Plattform für Leute, die meine Gaming-Videos auf YouTube anschauen, um außerhalb der sperrigen YouTube-Kommentare in engeren Kontakt zu treten. Diesen Server hatte ich ziemlich euphorisch angelegt, ohne mir große Gedanken über Strukturen und Regeln zu machen, und war dann überrascht, als sich schnell einige Leute dort versammelt haben.
Glücklich und dankbar über soviel Zulauf war ich sicher, dass das alles tolle Menschen sind – eine Community voller Freude und Spaß also. Aber wenn mehr Leute zusammen kommen, wird auch die Bandbreite der Charaktere, Ansichten und Hintergründe größer. Kurz vor der USA-Wahl musste ich mir erstmals Gedanken darüber machen, ob es gut wäre, die Themen einzugrenzen.
Es stellte sich heraus, dass ein Trump-Befürworter seinen Weg auf den Server gefunden hatte. Das ist ungefähr so, wie wenn in meinem Wohnzimmer auf einmal ein Alien steht und ich das Alien erschreckt anschaue. „Was machst du denn hier?!“ frage ich entsetzt. „Ich wusste gar nicht, dass du hier sein kannst!“ rufe ich. „Ich dachte, dich gibt es nur in der Kommentarspalte des Welt-Magazins!“ ächze ich entsetzt als beinharter Anti-Trumper. Was soll ich denn jetzt mit dem Alien in meinem Wohnzimmer anfangen? Ich kann ja gar nicht mit ihm sprechen, es gibt keinen gemeinsamen Nenner – denke ich.
Zwischen dem Trump-Befürworter und den Anti-Trumpern auf dem Server begann sich schnell eine hitzige Diskussion zu entfalten. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Doch nicht alles so schön im Happy-Gaming-Land. Wenn einer offenbart, Trump-Fan zu sein, kann der nächste sich als AfD-Wähler, Verschwörungstheoretiker oder Flüchtlingshasser outen. Es ist klar, dass in einer Personengruppe aus X Menschen ein gewisser Prozentsatz dabei ist, der Ansichten vertritt, die ich weder im Wohnzimmer, noch auf dem Server haben möchte.
Und ich musste mir die Frage stellen: Wie kann ich damit umgehen? Was soll erlaubt sein auf dem Server? Wie reagiere ich als Privatperson auf solche Leute und Diskussionen, und wie als Serverbetreiber? Muss ich mich raushalten? Darf ich Partei ergreifen? Darf/kann/soll ich Leute rauswerfen, nur weil mir nicht gefällt, was sie sagen?
Sollte ich Themen verbieten – und wo zieht man die Grenze?
Mit diesen Fragen habe ich mich danach immer wieder herumgeschlagen. Meine erste Maßnahme war, in die Regeln zu schreiben, dass nicht über Politik diskutiert werden darf. Das habe ich auch schon auf anderen Servern gesehen – zugegeben, als ich erstmals diese Regel auf dem Discord-Server der Foundation-Entwickler sah, fragte ich mich zunächst auch, ob das denn sein muss. Warum soll man denn nicht diskutieren dürfen?
Aber mit der Trump-Diskussion wurde es mir klarer. In kürzester Zeit hatte sich die Stimmung aufgeheizt und es waren Gräben entstanden. Ich habe die Diskussion dann schnell unterbunden, á la „Das hier ist nicht der Raum für solche Diskussionen“, denn erfahrungsgemäß wird dann nicht sachlich argumentiert, sondern eher so, dass am Ende nicht nur Menschen beleidigt oder verschreckt sind wegen des harschen Tons, sondern dass verfeindete Lager entstehen und manche vielleicht auch den Server verlassen. Für mich wäre es die Höchststrafe gewesen, wenn jemand gegangen wäre, weil ich als Betreiber die Nutzer nicht vor Trump’schen Unwahrheiten auf meinem Server „beschütze“.
Danach war erstmal eine Zeit lang Ruhe. Richtig glücklich war und bin ich nicht darüber, dass ich die Themenwahl gedeckelt habe, aber ich hab keine andere Möglichkeit gesehen, mich und uns vor Satzfragmenten wie „Merkels steuerfinanzierte Dauergäste“ und „in diesem Land herrscht eine Diktatur“ zu schützen. Wenn man erstmal Tür und Tor für diese Art von Meckerei öffnet, gibt es kein Zurück mehr – diejenigen, die dem zustimmen, haben eine Plattform sowie Seelenverwandte gefunden, und die anderen, die nichts davon lesen wollen, schämen sich eventuell, in einer solchen Community aktiv zu sein.
Ich fürchtete nicht nur die Polarisierung der Community inkl. ständigen Wortgefechten und aggressiven Diskussionen – was bei einer kleinen Community schnell zur Auflösung führen kann, sondern auch, vielleicht zu erfahren, wer noch alles „auf der anderen Seite“ steht. Viele Nutzer habe ich ins Herz geschlossen Da fürchte ich mich davor, zu erfahren, dass einer oder einige eigentlich gar keine Kuschelbären sind, sondern Aliens in meinem Wohnzimmer.
Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, das wollte ich mir damit wohl vorgaukeln. Allerdings nagte an mir, dass „nicht wissen“ eigentlich auch nichts anderes ist als „wegschauen“. Ist es ok, evtl Nazis auf dem Server zu haben, es aber nicht zu wissen? Oder sollte ich klarer machen, was ich (!) nicht haben will? Aber ich kann ja auch keinen Lebenslauf inkl. Bewerbungsschreiben mit politischen Ansichten, Lieblingszeitungen etc. verlangen, wenn jemand meinen Server betritt. Wo soll man da eine Grenze ziehen?
Ich entschied, es dabei zu belassen: In den Regeln steht, dass es keine Hetze, keinen Rassismus etc. sowie keine politischen Themen geben soll. In der Hoffnung, dass die Nutzer schon wissen werden, was das bedeutet: Behaltet eure Alien-Ansichten gefälligst bei euch und konzentriert euch hier auf das, weswegen wir hier sind: Videospiele. Das ist allerdings eine ziemlich blauäugige Hoffnung und insgesamt ein schwer vermittelbarer Kompromiss, da ich „irgendwas“ verbiete, aber keine genauen Grenzen ziehe.
Wer denkt denn nun frei?
Und so kam es dann auch im November zur größeren Diskussion darüber. Ein neuerer Nutzer auf dem Server, nennen wir ihn „Moby Dick“, hatte bis dahin durchaus nicht wie ein Alien gewirkt. Ich mochte seinen Schreibstil und auch das, was er im Vorstellungskanal über sich geschrieben hatte.
Das Thema kam nun irgendwann vom einen aufs andere und schließlich auf Meinungsfreiheit und Meinungsbildung. „Moby Dick“ hatte dann das hier geschrieben:
Entsprichst du nicht dem Narrativ und denkst frei, objektiv, machst dir ein eigenes Bild und hast eventuell eine andere Meinung, bist du ein Nazi oder Verschwörungstheoretiker. Immer der selbe Scheiß. Aber es lebe ja die Meinungsfreiheit (Sarkasmus).
„Moby Dick“ auf Discord
Eigentlich nicht schlimm, aber ein paar Triggerwörter ließen mich aufhorchen: „Dann bist du ein Nazi oder Verschwörungstheoretiker“ (= er hat Verständnis für die Gruppen von Menschen, die gemeinhin als Nazis und Verschwörungstheoretiker angesehen werden) und natürlich der „Sarkasmus“ bei Meinungsfreiheit (= es gibt seiner Meinung nach keine Meinungsfreiheit).
Es ging dann weiter, dass Menschen mit wachem Geist die gängigen Narrative hinterfragen und sich nicht von offiziellen Kanälen manipulieren lassen, denn das sei es, was die Presse mache. „Moby Dick“ sei, im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen, jemand, der sich seine Meinung selbst bilde. Der nicht nachquatsche, was alle anderen sagten, sondern sich selbst ein Bild mache.
Soweit, so gut. Da stimmt vermutlich jeder zu: Nachquatschen und mitlaufen ist nicht gut. Ein offener, reflektierter Mensch also, dachte ich über „Moby Dick“. Der kann ja gar kein Verschwörungstheoretiker sein, denn wer offen und aufgeklärt ist, muss doch Bullshit erkennen können.
Im Laufe der nächsten Tage entdeckte ich aber, dass genau das das Problem ist. „Ich bilde mir meine Meinung selbst und glaube nicht alles, was mir gesagt wird.“ – wer das sagt und es genau so meint, für den ist alles offen. Ganz explizit auch die „wissenschaftliche Gegenseite“ (Zitat von „Moby Dick“). Jede Gewissheit steht auf dem Prüfstand. Ein fiktives Beispiel für diese Denkweise:
Eins plus eins ist gleich zwei? Nur, weil das jeder sagt, heißt das doch nicht, dass es stimmt. Vielleicht wird uns nur vorgegaukelt, dass es so ist. Vielleicht steckt die Hochfinanz dahinter. Wer hat was davon, dass wir alle glauben, eins plus eins wäre zwei? Ich suche mal nach Meinungen und Belegen von Andersdenkenden.
Wer suchet, der findet .. und zwar vermutlich einen YouTube-Kanal, der sich mit Zahlen beschäftigt und irgendwie belegt, dass eins plus eins nicht zwei ergibt. Und dann glaubt man das, denn man ist ja offen für alle Ideen und Meinungen. Insbesondere dann, wenn diese Stimmen „vom Mainstream“ „unterdrückt“ werden, denn es verdient Anerkennung, wie man selbst gegen den Strom zu schwimmen und sich nicht von der Masse mitreißen zu lassen. Das ist es, als was „Querdenker“ wie „Moby Dick“ sich sehen.
Genau deswegen hat ein Bodo Schiffmann, selbst Arzt und Praxisinhaber und vehementer Corona-Leugner, so einen hohen Zulauf: Er erzählt eine andere Geschichte als „Die“ – die Medien / Regierung / Drosten / linksgrün Versifften / – , und muss daher von „Denen“ viel Kritik einstecken, er wird „mundtot gemacht“. Also muss er etwas wissen und etwas aussprechen, was „Die“ nicht ausgesprochen sehen wollen. Sprich: Die Wahrheit.
Das ist ein ganz anderes Kaliber als die typischen Verschwörungstheoretiker, die wahlweise davon überzeugt sind, dass die Erde flach oder innen hohl ist. Das wurde mir klar, als ich noch eine Weile mit „Moby Dick“ per Privatnachricht diskutiert hatte. Es zog sich den ganzen Nachmittag hin und war sehr unangenehm, weil mir klar war, dass ein Kompromiss nicht möglich war.
Die Suche nach der Wahrheit
Mich hat auch zum Nachdenken gebracht, dass „Moby Dick“ offenbar ein gescheiter Mensch ist. Wenn er nicht gerade herumposaunte, dass wir von Medien manipuliert werden, war er auf dem Server ein sehr angenehmer Geselle. Ich hab mich dann gefragt, wie es sein kann, dass zwei Menschen von vermutlich vergleichbarem IQ sich in zwei Fronten gegenüberstehen, und beide Fronten sagen: Wir sind die Guten und die Vernünftigen, ihr seid die Dummen, die jeden Mist glauben.
Wie kann das sein? Wer hat denn nun Recht? Ich habe schon mit überzeugten Christen gesprochen, genauso wie mit überzeugten Muslimen. Beide Seiten haben versucht, mich von ihrem Glauben zu überzeugen. Der Moslem sagte mir, ich solle bitte den Koran doch mal lesen, dann würde ich die Wahrheit kennen. Er wollte, dass ich mich – zu meinem Besten! – dem wahren Glauben anschließe. Die Christin hingegen sagte mir, die Muslime hingen einem falschen, fehlgeleiteten Glauben an und seien selbst Schuld, wenn sie nicht in den Himmel kommen. Letztlich ist es also ein Glaubenskrieg.
Die Welt ist ein komplizierter Ort. Niemand hat Erkenntnisse aller wissenschaftlichen Fachbereiche überprüft, niemand kann gleichzeitig Biologie, Physik, Chemie, Geschichte, Paläontologie, Genetik, Mathematik und was sonst noch studiert haben, um mit Gewissheit sagen zu können, dass alles, was wir darüber wissen, wahr ist. Nein, tatsächlich haben Individuen nur sehr wenig selbst überprüftes Wissen. Wir müssen also vorhandenen Wissensquellen glauben. Wir vertrauen darauf, dass es stimmt, was in Lehrbüchern steht und was wir in der Schule lernen. Meistens klingt es zudem auch plausibel – also nehmen wir es als Wahrheit an. Wir glauben daran, dass es stimmt.
Ich weiß nicht, was genau ein Corona-Virus macht, wie es sich von anderen Viren und Bakterien unterscheidet und was bei einer Covid-19-Erkrankung in der Lunge passiert. Vermutlich hat ein Querdenker, der nicht an die Existenz der Corona-Pandemie glaubt, hier den gleichen Wissensstand wie ich. Ich aber glaube grundsätzlich, dass es keine Verschwörung der Regierung und irgendwelcher Mächtigen gibt, die das Ziel hat, alle Bürger zu unterdrücken. Natürlich WEISS ich es nicht, aber ich glaube fest daran, dass es nicht so ist. Aber warum tue ich das?
Was man glaubt und wie man urteilt, was „Wahrheit“ ist, hängt sehr von der eigenen Sicht auf die Welt und den persönlichen Erfahrungen ab. Ich habe eine Menge historisches Wissen und weiß, wie sich unsere westliche Zivilisation entwickelt hat, und ich kenne auch einige Konflikte zwischen Regierenden und Regierten. Mir ist bekannt, wie und aus was die Demokratie, wie wir sie heute haben, historisch entstanden ist und wie sie funktioniert. Und ich bin sicher, dass dieses Wissen, das ich dazu habe, größtenteils korrekt ist. Ja, die Regierenden sind Menschen und damit fehlerbehaftet. In einigen Fällen sicher auch auf persönlicher Ebene niederträchtig, manipulierend und machtbesessen. Aber nicht im Gesamtbild.
Deswegen erscheint es mir unplausibel, warum sich jemand eine weltweite Pandemie ausdenken sollte, nur damit Jürgen und Petra beim Einkaufen eine Maske tragen müssen. Oder um der Pharmaindustrie Gelder zuzuschanzen. Lobbyismus gibt es, aber weltweite „Panikmache“, Billiarden Dollar wirtschaftlicher Schaden – für was?
Ich glaube dagegen an Berichte über überfüllte Krankenhäuser, über das Elend, allein auf der Intensivstation sterben zu müssen und darüber, wie schwer es für Pflegepersonal ist, in schweren Fällen nichts tun zu können, um den Patienten zu helfen.
Andere entscheiden sich aber, dem gesellschaftlichen Konsens keinen Glauben zu schenken. Sollte man evtl. von den in der Gesellschaft gültigen Grundsätzen enttäuscht worden sein, etwa, indem man das Gefühl hat, vom Staat abgezockt zu werden, dann ist es einfacher, dieses Wissen infrage zu stellen und stattdessen nach „alternativem Wissen“ zu suchen.
Corona als Zündstoffthema auf Discord
Auf Discord ging das ganze Ding etwa eine Woche nach meinem ersten Zusammentreffen mit dem Querdenker „Moby Dick“ richtig hoch. Die Diskussion entzündete sich an Corona. Ich hab dafür auch allergrößtes Verständnis, es war die Zeit, als der erste Impfstoff als neue Hoffnung präsentiert wurde. Ganz gefährliches Terrain – und natürlich sprang „Moby Dick“ darauf an: „Also ich lass mich nicht impfen, wer weiß, was da drin ist, das Zeug pfuscht mit unserer DNA herum“.
Ich versuchte dann, einen Mittelweg zu finden, dem hoffentlich jeder zustimmen können würde und schrieb, dass ich nicht so glücklich darüber bin, dass es keine Langzeitstudien gibt, etwa dazu, wie lange Immunität gegeben ist. Aber wenn sich jeder an einfachste Maßnahmen halten würde, dann wäre die Lage nicht so dramatisch und die Entwicklung eines Impfstoffes nicht so dringend. Mit „einfachsten Maßnahmen“ meinte ich Masken tragen und Abstand halten, hatte das aber dummerweise nicht dazu geschrieben.
Daraufhin explodierte dann „Moby Dick“. Jaja, erzähl das mit den Maßnahmen mal denen, die wegen des ersten Lockdowns alles verloren hätten. Er selber hätte dadurch seinen Job verloren, wurde tablettenabhängig, wäre fast gestorben und hätte danach dann angefangen, sich mit alternativen Meinungen zu Corona zu beschäftigen. Aber er dürfe hier auf dem Server ja nichts sagen, wegen dieses Politik-Verbots.
Ich hatte dann auch schon Puls, weil ich mich missverstanden fühlte und sicher nicht als die Böse dastehen wollte, wegen der Leute ihren Job verlieren. Jedenfalls machte ich dann den Fehler und schrieb zurück: „Gut, dann diskutiert. Wenn ihr gegen Maßnahmen wie Masken und Abstand seid, aber auch gegen eine Impfung, was ist dann die richtige Lösung?“
Damit wollte ich einfach aufzeigen, wie widersprüchlich es ist, wenn man gegen Corona-Maßnahmen protestiert, um endlich wieder Normalität zu haben, aber genau durch dieses Verhalten weitere Maßnahmen notwendig werden.
Die Diskussion entwickelte sich dann allerdings so, dass ein anderer „Freidenker“ – nennen wir ihn „Kenny“ – meinte, dass es gar nicht so viele tödliche Fälle gäbe. Ich verwies auf die Übersterblichkeit, die genauer zeigt, wie viele Menschen durch Corona mehr sterben als üblich. Kenny schrieb dazu „Traue keinen Statistiken, die du nicht selbst gefälscht hast“. Okay, dann braucht man auch nicht diskutieren. Wer denkt, dass offizielle Statistiken gefälscht sind, der lässt sowieso keine Argumente zu.
„Moby Dick“ verwies dann auf eine Studie der WHO und das Ende vom Lied war, dass er sagte: „Es gibt keine Pandemie, es hat nie eine gegeben“. Und ich sollte mich doch erstmal informieren, bevor ich den Medien hinterher laufe.
Da war für mich der Punkt erreicht und ich warf „Moby Dick“ vom Server. Ich kannte die Studie, sie hatte im Oktober oder September besagt, dass die Ansteckungs- und Todesraten nicht ganz so schlimm sind wie befürchtet. Sie besagte nicht, dass es keine Pandemie gibt. Über umstrittene Maßnahmen diskutieren wäre ja noch ok, aber darüber, ob es überhaupt Corona gibt? Nein. Diese Diskussion wäre ausgeartet und hätte sich ewig gezogen. Ich hatte meine Diskussionserfahrungen mit „Moby Dick“ ja schon gemacht. Nach „Brandolinis Gesetz“ erfordert das Widerlegen von Schwachsinn deutlich mehr Energie als dessen Produktion.
„Kenny“ ging daraufhin freiwillig und schleuderte mir am Tag darauf in einem YouTube-Kommentar die Worte entgegen, die oben im ersten Absatz zu lesen sind. Er kritisiert damit vor allem mein Politik-Verbot, die schwammigen Regeln und das „Mundtot machen“ durch den Serverbann. Ganz unberechtigt ist das natürlich nicht. Deswegen weiter zum nächsten Kapitel ^^
Meinungsfreiheit und Themenbegrenzung?
Ja, Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, und nein, Zensur ist nicht das, wofür ich stehe. Ich sehe aber auch nicht ein, dass ein Gaming-Server zur Plattform für Verschwörungstheoretiker werden sollte.
Ganz Ähnliches haben wir vor kurzem erlebt, als Twitter Donald Trumps Account sperrte. Es gibt ein Recht auf Meinungsfreiheit – für jeden. Das bedeutet, dass niemand wegen seiner Meinungsäußerung Repressalien zu befürchten hat. Aber niemand hat das Recht, diese Meinungsfreiheit auf fremden Plattformen auszuleben. Nicht in meinem Wohnzimmer, nicht auf meinem Server und auch nicht, wenn Trump auf Twitter, einem Privatunternehmen, seine Anhänger aufhetzt. Twitter musste sich dann viel Kritik wegen Zensur gefallen lassen.
Das Thema ist einfach schwierig. Auch „Moby Dick“ hatte mir auf YouTube noch seine Meinung zum Bann geschrieben. In gewählteren Worten als „Kenny“, aber die Richtung war dieselbe. Auf einem Server, auf dem Themen „unterdrückt“ werden und deswegen „ein Klima der Angst“ herrscht, würde er sowieso nicht bleiben wollen. Immerhin wünschte er mir am Ende allzeit eine Handbreit Wasser unter dem Kiel. Das konnte ich auch nur zurückgeben – schade um die Person.
Ich habe mir seine Kritik zu Herzen genommen, natürlich. Es bleibt ein grundsätzliches Problem, festzulegen, was in einer kleinen Community erlaubt ist und was nicht. Hier gilt es einfach abzuwägen: Was für eine Community möchte ich haben? Wie reagiert sie darauf, wenn darüber gestritten wird, was „Wahrheit“ nun bedeutet? Ich habe die ganze Zeit versucht, im Sinne der Community zu agieren und die Themen so zu kanalisieren, dass es beim gemeinsamen Nenner aller Anwesenden bleibt: Videospiele. Darüber kann man sich unterhalten und diskutieren.
Mein Fehler und mein Problem ist, keine klaren Grenzen ziehen zu können. Ich kann nicht im Voraus sagen: Thema A, Thema B und Thema C sind tabu. Ich kann im Voraus nicht wissen, welche Themen evtl. aufkommen könnten, und auch schwierige Themen können sich harmlos anbahnen. Wann schreitet man dann ein? Bevor etwas gesagt wird, was polarisiert? Oder erst dann, wenn es bereits gesagt wurde, und wie unerträglich dürfen diese Meinungen sein, bevor ich die Reißleine ziehe?
Und: Wie sehr darf ich selber als Hausherrin mitdebattieren? „Moby Dick“ sprang immer mich an, obwohl auch andere moderate Meinungen vertragen. Mich identifizierte er aber als den Hauptgegner. Wenn ich schon rot vor Wut werde, wenn ich die eine oder andere Meinung lese, kann ich dann meiner Wut freien Lauf lassen und den Leuten sagen, was ich denke? Oder sollte ich mich als Betreiber zurückhalten und keine Partei ergreifen? Denn ich agiere ja als „der Server“, und wenn ich wütend diskutiere, dann ist auf dem Server eine wütende Stimmung.
Ich hab für mich noch keine Antworten gefunden.
Der Aufstieg der Querdenker
Zurück zu den Querdenkern. Deren Aufstieg letztes Jahr macht mir Angst, wirklich. Denn nicht nur irgendwelche Schwurbler sprechen darauf an, sondern die Mitte der Gesellschaft findet hier ihre Einstiegsdroge. Es scheint Mode zu sein, sich von „Mainstream-Medien“ (danke, Trump) und der Wissenschaft zu distanzieren. Es geht um Menschen, die sich nun wirklich nicht für Nazis, Verschwörungstheoretiker oder Rassisten halten, sondern nur keine Lust mehr haben, sich einzuschränken.
Mir fällt es leicht, zu Hause zu sitzen und mich mit niemandem zu treffen, das hab ich eigentlich schon immer so gemacht. Aber was ist mit alleinerziehenden Müttern, die mit Kind und Kegel zusammenhocken, mit Street Art-Fotografen, mit Studenten, die kaum einen Platz in der Bibliothek bekommen oder eben eine „Jana aus Kassel“? Der Weg zwischen dem Wunsch, wieder raus zu können, und der Suche nach einer Rechtfertigung, gegen die Maßnahmen zu verstoßen, ist nicht weit. Und diese Rechtfertigung gibt es bei den Querdenkern. Sie führen Studien an, verweisen auf die „wissenschaftliche Gegenseite“ und auf Mediziner, die Atteste schreiben, um Menschen von der Maskenpflicht zu befreien.
Bei uns im Ort haben wir eine Bäckerei, die soooo gutes Brot macht. Aber an der Theke hängt ein ausgedruckter Zettel: „In diesem Geschäft herrscht Maskenpflicht. Aber nicht jeder kann aus gesundheitlichen Gründen eine Maske tragen. Wir verstehen und respektieren das. Dazu gehören auch einige unserer Mitarbeiterinnen“. Ergo: Die Verkäuferinnen tragen keine Masken. Keine einzige. Kaum zu glauben, dass sie alle schwerwiegende Atemwegserkrankungen haben. Warum sollten dann die Kunden eine Maske tragen? Und nein, ich wohne nicht in Sachsen, sondern in Baden-Württemberg.
Wenn man dann schon in diesem Milieu angekommen ist und einem Schiffmann – Mediziner für Schwindelanfälle! – mehr glaubt als einem Drosten oder Lauterbach, dann liegt auch die AfD nicht fern, die schließlich dankend jede Gelegenheit annimmt, um solche Zweifler einzufangen. Und das macht mir Angst. Was, wenn irgendwann diejenigen, die an wissenschaftliche Paradigmen glauben, nicht mehr in der Mehrzahl sind, sondern diejenigen, die den Weg der Wissenschaft ablehnen? Wohin führt das?
Beitragsbild „Kreidetafel“ © Thomas Reimer | AdobeStock
Schreibe einen Kommentar