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Die verrückte Reise von Uromas Stühlen

Ein Stuhl aus dunklem Holz mit brauner Sitz- und Rückenpolsterung

Drei Jahre ist es her, da schallte das Gerücht durch den erweiterten Familien-Flurfunk, dass die alten Stühle meiner Uroma Marie ein neues Heim suchten. Nicht irgendwelche Stühle, die irgendjemand der alten Dame bei Ikea gekauft hätte – mitnichten! Nein, die Stühle, die sie im Jahre des Herrn 1925 als Aussteuer mit in ihre Ehe gebracht hatte. In anderen Worten: Stühle, die es schon gab, bevor meine Großeltern geboren wurden. Oder in noch anderen Worten: Stühle, die wohl mindestens 100 Jahre alt und seitdem in Familienbesitz sind. 

Keine Frage, “Ich nehme sie!”, teilte ich meinem Onkel aus Bremen mit. Er hatte, so geht die Legende, sechs der ursprünglich zwölf Stühle von Uroma Marie übernommen, als sie 1981 im Alter von 86 Jahren von der Erde schied. Die Stühle hatten ihm seither treu am Esstisch der Familie gedient, doch nun sollte etwas Moderneres her. Mein Onkel freute sich über das Interesse und so fuhren Pierre und ich vor drei Jahren 600 Kilometer von Heidelberg nach Bremen, um die guten Stühle abzuholen. Eigentlich wollte ich den Beitrag schon viel früher schreiben, aber wie es eben so ist..

Ein Stuhl aus dunklem Holz mit brauner Sitz- und Rückenpolsterung
Eines der guten, alten Stücke: Auf den ersten Blick schlicht und etwas bieder.

Jedenfalls: Mit den Stühlen war es Liebe auf den ersten Blick. Beziehungsweise auf den zweiten. Auf den ersten Blick sehen die Stühle aus wie etwas altbackene, biedere Esszimmerstühle. Doch der zweite Blick geht beim umgedrehten Stuhl ins Innenleben, beziehungsweise in die Sitzpolsterung. Und das ist, wie ich als Laie finde, ein Fenster direkt in die Werkstatt irgendeines Tischlers, der mit Pfeife im Mund und Mütze auf dem Kopf Nägel in die Polstergurtbänder schlägt.

Schau dir das mal an: Diese Polsterung ist Handarbeit! Jeder Knoten von Hand geknotet, jeder Gurt von Hand angelegt, jeder Nagel von Hand geschlagen. Wenn ich mir Mühe gebe, höre ich draußen vor der Werkstatt eine Pferdekutsche vorbeifahren, eine Kirchenglocke läutet. Diese Stühle wecken mein Interesse und meine Fantasie: Ich möchte mehr darüber wissen.

Ein früher Tod verhindert die „alten Geschichten“

Zwar habe ich Geschichte studiert, aber über meine eigenen Großeltern und vor allem Urgroßeltern väterlicherseits weiß ich so gut wie nichts. Leider sind sie bereits früh gestorben, ich war erst neun oder zehn. Und ich hatte sie auch gar nicht so oft gesehen. Zwischen unserer Familie im Stuttgarter Raum und meinen Großeltern in Barmke, Kreis Helmstedt in Niedersachsen, lagen 440 Kilometer Luftlinie. 

Sie hatten somit kaum Gelegenheit, mir “Geschichten von früher” zu erzählen. Ich wusste nur: meine Oma war als junge Frau am Ende des Krieges mit ihren beiden jüngeren Brüdern und ihrer Mutter, meiner Uroma Wanda, aus Ostpreußen geflohen. Diese Geschichte meiner Oma aus der Kriegszeit ist in meinem Gedächtnis so dominant, dass ich mir nie darüber Gedanken gemacht hatte, woher denn mein Opa, beziehungsweise dessen Eltern gekommen waren. Und genau dort liegt die Herkunft von Uromas Stühlen. 

Und so sind diese Möbelstücke tatsächlich ein echtes Stück (für mich) unbekannte Familiengeschichte. Mein Onkel hatte mir ein wenig über deren Ursprung erzählt, aber für diesen Beitrag habe ich vor allem meine Tante als inoffizielles Familienarchiv noch nach der Herkunft von Uroma Marie gelöchert. 

Zur Bildung weit weg von Zuhause

Ich musste 39 Jahre alt werden und mir über Stühle Gedanken machen, um zu erfahren, dass Uroma Marie gar nicht aus Barmke stammte. Ich hatte immer gedacht: Die einen Urgroßeltern sind aus Ostpreußen gekommen (dramatisch, spannend), die anderen aus Barmke. 

Stimmt aber nicht: Tatsächlich habe ich in Schwaben aufgewachsene Süddeutsche fast schon Küstensalz im Blut. Uroma Marie stammt aus Neuenburg bei Zetel, nur zehn Kilometer vom Nordsee-Jadebusen bei Wilhelmshaven entfernt. Zur Nordseeküste mit den Ostfriesischen Inseln sind es nur 35 Kilometer Luftlinie. Vielleicht erklärt das meine große Begeisterung für die Seefahrt? :D Leider nicht. Denn Maries Familie waren Landwirte, keine Kapitäne auf großer Fahrt. Aber egal, mich freut’s trotzdem.

Karte von Deutschland. Darauf ist der Wohnort meiner Großeltern bei Braunschweig sowie meine ursprüngliche Heimat südwestlich von Stuttgart zu sehen. Dazwischen befindet sich eine Linie mit der Beschriftung 440 km.
Leider habe ich meine Großeltern nicht sehr oft gesehen, weil ich eine halbe Bundesrepublik von ihnen entfernt aufwuchs. Karten-Quelle: Google Maps

Uroma Marie, 1895 geboren, wurde von ihren Eltern auf die Landfrauenschule in Helmstedt geschickt. Das ist eine Art weiterführende Hauswirtschaftsschule für junge Frauen. Eine Bauerntochter zu Bildungszwecken in ein 240 Kilometer entferntes Internat zu schicken, scheint mir für Anfang des 20. Jahrhunderts schon beachtlich. In der gleichen Klasse saß jedenfalls Elfriede aus Barmke und Elfriede nahm Marie mit zu sich nach Hause. Dort lernte Marie Elfriedes Bruder Herbert kennen, ihren späteren Mann, meinen Uropa. Ganz ähnlich hatten sich auch meine Eltern kennengelernt, aber das ist eine andere Geschichte.

1925 wurde in Neuenburg geheiratet – bei der Familie der Braut, nicht des Bräutigams, 240 Kilometer Luftlinie entfernt von Barmke. Und Uroma Marie hatte sich gut auf den eigenen Hausstand vorbereitet.

Mit Aussteuer bereit für den eigenen Haushalt

“Aussteuer”, ein grässliches Wort. Ich weiß noch, dass ich mit zehn Jahren einen Bettbezug zu Weihnachten bekam, “für deine Aussteuer”. “Damit du was hast, wenn du heiratest”. Ich war stinksauer. Mein Bruder hatte irgendwelches cooles Lego-Technikzeug bekommen und ich bekam einen Bettbezug mit fröhlichen rosa Elefanten für irgendeine blöde Ehe Jahrzehnte in der Zukunft (…. turns out: Ich hab den Bezug noch immer und werfe ihn sicher nicht weg!!).

Fußende eines Kinder-Frottee-bettbezugs mit einem freundlich lachenden rosa Elefanten
Mein einziges, echtes „Aussteuer“-Stück: Ein Kinderbettbezug, den ich um 1990 von meinem Patenonkel zu Weihnachten bekam. Ob das wirklich als Aussteuer gedacht war, ist zu bezweifeln, aber ich hab mich sehr darüber aufgeregt.

So richtig ernst nahm man bei mir das mit der Aussteuer nicht mehr, aber noch meine Mutter war (soweit ich weiß) immer stolz auf ihr handbemaltes “gutes Geschirr”, das sie mit in die Ehe gebracht hatte.

Uroma Marie hatte jedenfalls einiges mehr an Aussteuer angesammelt als ich oder meine Mutter. Zum Beispiel zwölf Stühle, einen massiven Esstisch, einen großen Vitrinenschrank, diverses Silbergeschirr und Porzellan sowie bestickte Tischwäsche. Aussteuer war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch deutlich üblicher als zu meiner Zeit. Im Grunde gehörten zur Aussteuer Haushaltsgegenstände, oft wohl Geschenke der Eltern, die eine junge Frau in die Ehe mitbrachte. Das sollte vermeiden, dass das junge Paar auf Holzkisten sitzen oder gar an Holzkisten OHNE TISCHDECKE essen musste. Es war die Grundausstattung für einen neuen, zivilisierten Hausstand.

Zwölf Stühle also, von denen die Hälfte jetzt bei mir steht. Wann und wo wurden sie angefertigt? Ich weiß nicht viel über Aussteuer-Bräuche in den 1920er Jahren. Meine Vermutung: Maries Eltern haben die Möbelstücke anfertigen lassen, als sich die Hochzeit anbahnte. Heißt: Irgendwann 1924 oder 1925 und ziemlich sicher bei sich in der Gegend um Neuenburg, nicht in Helmstedt.

240 Kilometer Luftlinie: Eine halbe Weltreise

Nun wurde also in Neuenburg geheiratet, die Familie von Uropa Herbert musste irgendwie dorthin kommen. Wie? Mit einem neumodischen Automobil? Schwer vorstellbar für die bäuerliche Landbevölkerung um 1925. Mit einer Pferdekutsche? Vielleicht. Mit dem Zug? Vielleicht. Eine interaktive Karte der Berliner Morgenpost zeigt das Eisenbahnnetz im Wandel der Zeit. Für 1925 wäre diese simple Liniennutzung denkbar:

Von Helmstedt nach Braunschweig. Von Braunschweig nach Hannover. Von Hannover nach Wunstorf. Von Wunstorf nach Bremen. Von Bremen nach Oldenburg. Von Oldenburg Richtung Wilhelmshaven – und dann irgendwo Abholung durch eine Kutsche vom Provinzbahnhof. Das sind nur fünf Umstiege, aber vielleicht waren damals die Bahnen immerhin pünktlicher :D

Und nach dem rauschenden Fest* (*Vermutung) das entsetzte Erwachen: All die Möbel müssen ja auch von Neuenburg nach Barmke kommen. Zwölf stapelbare Stühle: Okay. Ein richtig dicker Tisch? Ich kenne das Teil. Das Ding ist massiv. Mein Onkel will ihn leider* nicht hergeben (*ich hätte ihn gern, habe aber sowieso keinen Platz dafür). Ein Vitrinenschrank mit Glasscheiben? Jetzt wird’s interessant.

Von meinen Reisen als Kind zu den Großeltern nach Barmke per Bahn weiß ich, dass man damals Gepäck aufgeben konnte, ähnlich wie bei Flugzeugen heute. Meine Mutter hat schwere Koffer, soweit ich mich erinnere, sogar schon Tage vor der eigentlichen Bahnfahrt beim Bahnhof abgeliefert. Wurden also zwölf Stühle, ein Tisch und eine riesige Vitrine sowie diverses Kleinzeug wie Bettwäsche (vielleicht gesammelt in einer Truhe) per Bahn verschickt und auf magische Weise sorgte die Bahn dafür, dass das Zeug in Helmstedt ankam?

Kartenausschnitt, auf dem ein Pfeil die Reise der Stühle von Neuenburg nach Barmke anzeigt
Die erste Reise der Stühle: 1925 von Neuenburg nach Barmke. Quelle: Google Maps

Für mich ist das nicht trivial, schließlich halte ich das Zeug, um das es geht, sozusagen hier in den Händen. Die Stühle haben die Reise mitgemacht, aber sie sagen mir keine Details. Vielleicht wurden sie also in einen Gepäckwagen der Bahn gehievt – von Hand natürlich, Container gab es noch nicht – und haben somit eine Reise mit der Dampfeisenbahn hinter sich. Stell dir das vor! Die Stühle haben die Zeit erlebt, die wir fast nur von Schwarz-Weiß-Fotos kennen und sind mit den damals selbstverständlichen Dampfzügen mitgefahren. Das haben sie (vielleicht) am eigenen Holz erlebt!

Mehr als ein halbes Jahrhundert in der guten Stube

Wie all diese Möbel nach Barmke kamen, weiß auch meine Tante nicht. Aber irgendwie kamen sie an. Und blieben dann von 1925 bis 1981 im Bauernhaus der Familie in Barmke in der Stube. Es war ein Bauernhof hinter einer hohen Straßenfront. Ein riesiges hölzernes Tor öffnete den Durchgang auf den – in meiner kindlichen, dunklen Erinnerung schlammigen – Innenhof.

Ein Google-Street-View-Bild mit der Straßenfront aus Backstein und einem großen hölzernen Tor
So sieht’s aus: Ein Bauernhof hinter einem hohen Eingangstor. Quelle: Google Street View

Die Stühle erlebten, wie mein Opa und seine drei Brüder um sie herum krabbelten. Dann kam der Krieg. 1944 wurde durch Flächenbombardements in Braunschweig, nur 28 Kilometer Luftlinie entfernt, ein Feuersturm entfacht, der zweieinhalb Tage brannte und 90 Prozent der Innenstadt zerstörte. Was mag das in Barmke für ein Gefühl gewesen sein? Den Feuerschein und den Rauch konnte man sicher sehen. Ich kann leider meinen Opa nicht mehr dazu befragen. Er hat es gesehen. Und sich danach mit diesem Bild vor Augen auf diese Stühle gesetzt, tausendmal. 

Auch so ein Wandel-der-Zeit-Ding: Welcher gesunde Mensch hat heutzutage Platz für eine Tafel, die jederzeit bereit für den Empfang von zwölf Personen ist?  Aber damals war es noch anders, denn Uroma Marie lebte mit Mann und späteren Söhnen bei ihrer Schwiegerfamilie. Die Schwiegermutter, meine Ur-Uroma Emma, soll “eine lockere Hand” gehabt haben, und wie meine liebe Tante berichtet, hatte Uroma Marie zeitlebens Heimweh zu ihrer eigenen Familie.

Auch mein Vater und meine Tante haben dort ihre ersten Lebensjahre verbracht, bis ihre Großeltern wohl Ende der 1950er ein paar Straßen weiter ein eigenes Haus bauen konnten. Uroma Marie starb 1981, im Jahr meiner Geburt. Sie wusste sicher, dass ein Urenkelkind unterwegs war. Ihre Aussteuer wurde dann wohl aufgeteilt, die Hälfte der Stühle und die restlichen Möbel sicherte sich mein Onkel, der damals selbst erst Anfang 20 war. Die nächsten Jahrzehnte standen sie bei ihm in Bremen.

Kartenausschnitt, auf dem ein Pfeil die Reise der Stühle von Barmke nach Bremen anzeigt
Ungefähr 1981 reisten die Stühle nach Bremen, wo sie sicher auch noch durch verschiedene Wohnungen wechselten, bis sie ihren festen Platz im Esszimmer bekamen. Quelle: Google Maps

Ich stelle mir gern vor, dass die Stühle so, wie sie heute sind, aus der Tischlerwerkstatt kamen. Ich weiß aber, dass mein Onkel sie mindestens einmal hat neu polstern lassen, weil sich die Sitzflächen ja über die Zeit abnutzen. Und sicher wurden sie auch in den 60 Jahren im Besitz meiner Uroma neu gepolstert. Möglicherweise oder wahrscheinlich wurden dabei auch die Sprungfedern und Gurte ersetzt – sie sehen einfach zu gut aus für 100 Jahre Hintern tragen. Es kann also gut sein, dass nur das Holzgestell der Stühle im Originalzustand sind. Vielleicht aber auch nicht, ein wenig Flugrost und die unregelmäßig gesetzten Nägel sprechen (finde ich) gegen eine moderne Fachwerkstatt.

Nahansicht auf eine Ecke des Innenrahmens
Die Nagelköpfe sind teilweise etwas blind geworden und stehen teilweise schief.

Wie geht es mit den Stühlen weiter?

Natürlich kannte ich die Stühle schon immer. Ich habe meinen Onkel hin und wieder besucht, Uromas Aussteuer-Möbel habe ich dabei immer vor Augen. Ich wusste nur nicht, dass sie von Uroma stammen und schon so alt sind, ich dachte, es sind eben altmodische Möbel. Tja, und Ende 2021 packten wir die sechs Stühle in meinen kleinen Opel Corsa und überführten sie in ein Dorf bei Heidelberg.

Kartenausschnitt, auf dem ein Pfeil die Reise der Stühle von Bremen nach Heidelberg anzeigt

Dort dienten sie …. irgendwie im entferntesten Sinne auch als Aussteuer, denn fast genau ein Jahr später heirateten wir und die werte Familie nahm auf Uromas Stühlen Platz.

Und nur wenige Wochen später zogen wir um. Nach Norden. Heute befinden sich Uroma Maries Stühle leicht nördlich und ein Stück östlich von dort, wo sie vor 100 Jahren angefertigt worden. Nur rund 91 Kilometer entfernt – deutlich näher als Barmke, wo sie die größte Zeit standen. Gemessen an der gesamten Entfernung sind die Stühle also irgendwie zurück nach Hause gekehrt. Hier bleiben sie erstmal.

Kartenausschnitt, auf dem ein Pfeil die Reise der Stühle von Heidelberg nach Stade anzeigt

Ich danke ganz herzlich meiner lieben Tante Ingrid, die ich für diesen Beitrag über Tage hinweg mit Fragen gelöchert habe und die mir auch erst letztes Jahr Uromas Tischdecke überließ.

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