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Michael Palin – Erebus. Ein Schiff, zwei Fahrten und das weltweit größte Rätsel auf See

Cover: Michael Palin - Erebus. Ein Schiff, zwei Fahrten und das weltweit größte Rätsel auf See
Dieses Buch erhielt von Lucyda 4 Sterne
Details zum Buch

Autor: Michael Palin
Titel: Erebus. Ein Schiff, zwei Fahrten und das weltweit größte Rätsel auf See
Erstveröffentlichung: 2018 (Orig.) / deutsch 2019
Deutsche Übersetzung: Rudolf Mast
Seiten: 438 + Chronik & Literatur- und Bildernachweis

Ende November war es bitterkalt in Stade. Pierre und ich hatten dort nachmittags einen Termin – Info folgt – und wir waren schon komplett eingefroren. Da lächelte uns eine Buchhandlung in der Altstadt an. Buchhandlungen sind immer gut (und warm), also vertrieben wir uns dort die Zeit. Im Schifffahrtsregal sprang mich das Buch EREBUS von Michael Palin an. Die HMS Erebus ist das Flaggschiff der berühmten Franklin-Expedition, die nach zwei langen Wintern im arktischen Eis 1848 so tragisch scheiterte. Ich konnte nicht anders und kaufte das Buch.

Und wie erwartet versetzte mich diese sogenannte Entdeckerlektüre für gut zwei Wochen ins Polarfieber, mit begleitender Suche auf Google Maps und Wikipedia ^^

Darum geht’s: Die Erebus und ihre zwei großen Reisen

Die Franklin-Expedition und ihr tragisches Schicksal ist natürlich das, wofür die HMS Erebus bekannt ist. Michael Palins Buch aber behandelt weitaus mehr. Die Franklin-Expedition nimmt tatsächlich nur etwa ein Viertel des Buchs ein.

Sir Michael Palin, seines Zeichens Teil der britischen Comedy-Truppe Monty Python, begibt sich selbst auf eine Expedition: Er heftet sich an die Spuren des Flaggschiffs, der HMS Erebus.

Und so schreibt er eine Art Erlebnis-Biografie über ein Schiff – vom Bau der Erebus bis zu ihrem Untergang. Er berichtet, wie er die Werft besucht, in der sie gebaut wurde und beleuchtet, was für ein Schiff die Erebus war – eine kleine Bombarde, für die es zunächst gar keinen richtigen Zweck gab.

Erebus & Terror in der Antarktis: Die Ross-Expedition und der magnetische Südpol

Während ich darauf wartete, dass die Erebus endlich zusammen mit der Terror in den hohen Norden segelt, lernte ich, dass die Erebus schon davor eine großartige Reise unternommen hatte: In die entgegengesetzte Richtung, die Antarktis. Das war für mich ganz neu. Und auch, dass die beiden Schiffe sich schon in dieser früheren Expedition zusammen bewährt hatten.

Die Erebus und die Terror waren die beiden Schiffe, mit denen James Clark Ross 1839 erstmals den magnetischen Südpol erreichen wollte. Diese Antarktis-Mission dauerte fast vier Jahre und Ross entdeckte und benannte dabei unter anderem das Ross-Schelfeis (die „Barriere des Südens“) und den aktiven Vulkan Mount Erebus. Dazu kartierte er zahlreiche Küstenlinien.

Zwar konnte die Expedition aufgrund des Schelfeises den magnetischen Südpol nicht erreichen, aber dennoch gelang es den beiden Schiffen und ihren Besatzungen, weiter Richtung Südpol vorzudringen als sonst jemand zuvor. Die Ross-Expedition wies auch erstmals nach, dass die Antarktis ein Kontinent ist.

Die beiden Schiffe machten während dieser anspruchsvollen Mission eine hervorragende Figur, obwohl sie mehrmals nur knapp einer Katastrophe entgingen. Diese erfolgreiche Expedition wird etwa im Wikipedia-Artikel zur HMS Erebus nur in einem halben Satz erwähnt. Beide Schiffe waren also nicht einfach irgendwelche Schiffe, als sie zur Nordwestpassage aufbrachen. Nein, es waren berühmte Expeditionsschiffe, die sich bereits im Eis bewährt hatten.

Michael Palin folgte der Erebus und Terror quasi Schritt auf Tritt. Er begab sich nach Tasmanien, auf die Falkland-Inseln und zum Ross-Schelfeis und durchforstete u.a. Baupläne, Tagebucheinträge und Briefe. Sein Buch EREBUS ist keine Fachliteratur – die gibt es natürlich auch, ist aber weniger zugänglich. In die Richtung Fachliteratur geht das Buch Amundsen

So kann er uns ein Bild verschaffen, was die Expeditionsteilnehmer mitmachten, was sie sahen und was sie fühlten. Die Besatzung hat viele schriftliche Nachrichten und sogar einige Bilder hinterlassen. Palin bringt viele Zitate aus den hinterlassenen Schriften und auch einige farbige Abbilder von Aquarellen der Besatzung oder Fotos sind dabei.

Erebus & Terror in der Arktis: Die Franklin-Expedition und die Nordwestpassage

Nach der Rückkehr aus der Antarktis 1843 liegen die beiden Expeditionsschiffe erstmal in England vor Anker. Man weiß nicht so recht, was aus ihnen werden soll. Palin beschreibt dann, wie der britischen Admiralität die Durchfahrung der Nordwestpassage nördlich von Kanada schmackhaft gemacht wird. Zuvor waren schon einige andere Expeditionen aufgebrochen, um diese legendäre Passage zu entdecken und zu kartografieren. Was würde man sich viel Zeit sparen, wenn Schiffe nicht ganz Afrika umsegeln müssten, um nach Asien zu kommen!

Palin geht auf die Schwierigkeiten dieser Mission ein, und auch, warum sie scheiterten. Der Leser bekommt hier wirklich eine ganze Menge Polarfoschungsgeschichte geboten. Und weil die Admiralität der Idee nun gewogen ist, die Sache endlich mal durchzuziehen – und weil zufällig zwei sehr eiserprobte Schiffe auf einen neuen Einsatz warten, rüstet sie mit großem Aufwand eine neue Expedition aus. Die Schiffe wurden mit Proviant für mindestens drei Jahre beladen und man baute jeweils einen 25 PS-Dampflokmotor mit Schiffsschraube ein – alles der letzte Schrei der Technik.

Mitte 1845 brachen die Erebus und Terror Richtung Grönland auf. Kommando hatte Sir John Franklin, der, wie wir erfahren, nicht die erste Wahl für diesen Posten war, und auch selbst Zweifel an seinen Fähigkeiten hatte.

Eigentlich rechnete man damit, dass die Schiffe nach einem Jahr schon „auf der anderen Seite“ ankämen. Aber die Schiffe kamen nie an, sie verschwanden spurlos im eisigen arktischen Norden. Das Schicksal der Expedition erregte ab 1847 großes öffentliches Interesse. Was war mit den Männern auf See passiert? Lebten sie noch?

Erst Jahre später tauchten erste Hinweise auf, die Licht ins Dunkel brachten und Zeugnis ablegten, wie schrecklich die Expedition gescheitert war. Die beiden Schiffe waren zwei Jahre lang im Eis festgefroren, das sie auch im Sommer nicht mehr freigab. Im arktischen Winter geht die Sonne drei Monate nicht mehr auf und die Temperaturen liegen bei -30 bis -40°C.

Anfang 1848 verließen die Männer ihre sicheren Schiffe und machten sich krank, hungrig und verzweifelt auf einen langen Weg nach Süden, in der vergeblichen Hoffnung auf Rettung.

Dieses Buch ist nicht mein erster Kontakt mit der Franklin-Expedition (ich bin besessen!): Sie wird mit etwas Fantasie angereichert auch in der Serie The Terror verarbeitet, und im Aufbauspiel Anno 1800 kann sich der Spieler im DLC „Die Passage“ selbst auf die Suche nach der Expedition machen.

Jedes Mal, wenn ich über die Franklin-Expedition stolpere, reißt mich die Geschichte wieder aufs Neue mit, und so war es auch diesmal.

Lesegefühl & Rezension

Überraschende Erkenntnisse über die Erebus und Terror

Auch, wenn ich mich zunächst eher ungeduldig in die Antarktis-Geschichte einlas, zog sie mich dann doch in ihren Bann. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl war, mit bloßen Händen gefrorene Taue zu ziehen. Oder Tiere und Inseln zu sehen, die nie zuvor jemand gesehen hatte. Oder wie das Knirschen von Packeis klingt, wenn das Schiff versucht, sich einen Weg hindurch zu bahnen. Palin fügt hier auch viele Details ein, die er während seiner Recherchen aus Originaldokumenten entnommen hat.

EREBUS ist eines dieser Bücher, die mich zum Extrem-Googling treiben. Meine Wikipedia- und Google Earth-Nutzung stieg während des Lesens rapide an. Ich verlor mich im Buch, und deswegen gleichzeitig auch in zahlreichen Wikipedia-Artikeln zu Aspekten, die auch nur im Entferntesten mit den besuchten Ländern und den erlebten Phänomenen zu tun hatten. Wo liegen die besuchten Schauplätze? Wie sieht es dort aus? Was bedeutete es für die Menschen damals, dort zu sein?

Eisberge am Lemaire-Kanal in der Antarktis | Credits: Depositphotos

Solche Sessions sind bei mir immer mit dem Wunsch verbunden, mich selbst in die Fußstapfen solcher Expeditionen zu begeben. Orte zu besuchen, die zumindest bis vor 200 Jahren nur durch lange und gefahrvolle Reisen zu erreichen waren. Solche Orte üben auf mich einen großen Reiz aus und die Ränder der Sahara habe ich bereits besucht :D

Sir Palins Buch ist auch deswegen so interessant, weil es den Fokus nicht auf die berühmte gescheiterte Expedition legt, sondern auf das Flaggschiff. Von der zweiten großen Expedition existieren nur sehr begrenzt Dokumente, die Aufschluss über die Ereignisse bieten. Über die Stimmung und das Leben an Bord während der letzten drei Jahre seit dem Verlassen der letzten bemannten Station im Polarkreis gibt es gar nichts.

Von der ersten Polarreise der Erebus und Terror dagegen ist alles da: Tagebücher, Logbücher, Bilder, Briefe – näher kommen wir dem Befinden von Polarexpeditionsteilnehmern auf den beiden verunglückten Schiffen nicht mehr. (Außer, Taucher können irgendwann zufällig Aufzeichnungen aus den beiden 2014 und 2016 gefundenen Schiffen bergen).

Die Welt lag ihnen zu Füßen

Die Protagonisten der neuzeitlichen Entdeckerexpeditionen begaben sich auf gefährliche Reisen, um die letzten weißen Flecken auf den Weltkarten aufzudecken – zum Ruhme des Vaterlandes.

In unserer heutigen Welt gibt es keine weißen Flecken mehr. Jeder kann mit der Google Maps-Satellitenansicht jederzeit zu so ziemlich jeden Ort der Erde springen und ihn zumindest von oben anschauen. Es scheint, dass alle Geheimnisse aufgedeckt sind. Wer heute auf den Spuren der frühen Entdecker wandeln will, kann das als Tourist tun, egal, ob es in die Sahara oder in die Arktis gehen soll. Okay, abgesehen von der Tiefsee, die noch immer weitgehend unbekannt ist.

Jetzt kommt eine etwas längere Ausschweifung, ich entschuldige mich – du kannst auch gleich zum nächsten Kapitel überspringen :)

Ich finde die Vorstellung faszinierend, dass Ross, Franklin und ihre Mitmenschen wussten, dass sie auf einer Welt voller Gefahren und Wunder lebten. Auf der es noch Bereiche gab, die vollkommen frei von menschlichen Einflüssen waren. Wo es Schätze zu entdecken und mitzunehmen gab. Ein Planet, der noch nicht von einem dichten Netz aus Straßen, Flug- und Schifffahrtslinien überzogen war. Ohne Mikroplastik in jedem Milliliter Ozeanwasser, ohne zu hohe Ozon- oder CO2-Werte in der Luft und Giftkonzentrationen im Boden.

Ein durchschnittlicher Wintertag: Flightradar24 zeigt live alle Flugzeuge an

Für mich heißt Menschsein schuldig sein. Meine Anwesenheit hier schadet dem Planeten, bzw. dem Leben auf ihm. Wenn ich an schöne Korallen denke, denke ich daran, dass Korallenriffe mit jedem Jahr kleiner werden. Wenn ich an Eisbären denke, sehe ich Hunger und schwindenden Lebensraum. Selbst der Urwald am Amazonas wird durch Brandrodung immer kleiner. Für den stetigen Hunger des Menschen nach Mehr bleibt für alle anderen Arten immer weniger.

Ross und Franklin lebten zu einer Zeit, als die endgültige Inbesitznahme des Planeten im Sinne der Industrialisierung durch den Menschen gerade begonnen hatte und noch nicht solche Spuren hinterlassen hatte wie heutzutage. Muss es nicht faszinierend sein, eine lebendige, weitgehend intakte Welt um sich herum zu haben, und sie ohne Schuldgefühle zu betrachten?

Auf diesen Aspekt geht Palin in einigen denkwürdigen Zeilen ein.

Und auch hier mündete sein [Captain Ross‘] aufrichtiger Wunsch, die Welt zu verstehen und zu verbessern, in einen Ratschlag, der politisch höchst bedenklich und ebenso radikal wie treuherzig war. In dem später verfassen Bericht über die Reise verlieh er seinem Unverständnis darüber Ausdruck, dass „ein so bezauberndes Land ungenutzt brachliegt, obwohl es eine große Bevölkerung ernähren könnte, während zu Hause in England viele Menschen kaum genügend zu essen haben, um den nächsten Tag zu überstehen.“

[…] Für Ross waren die Gewässer und Wälder Tasmaniens nicht erhaltenswert, sondern es galt, sie auszubeuten. Um die Welt besser zu machen, musste man den wirtschaftlichen Nutzen erhöhen, den man aus ihr zog. […] Für die Ureinwohner der Insel interessierte sich weder Ross noch sonst irgendjemand. Die meisten waren ohnehin schon getötet.

EREBUS, S. 176f

Könnte ich zurückreisen in Ross‘ Zeit – ich würde befreit aufatmen. Es gab noch so viel mehr Tierarten, die Balance der Welt schien intakt zu sein. Aber ich bin nicht Ross, Ross ist Ross und er sah in dieser perfekten Welt offenbar eine Gelegenheit für „Mehr“. Und das ist nicht mal schlimm, er hat es ja gut gemeint: Die Verbesserung der Situation seiner (englischen) Mitmenschen.

Wie ist es wohl zu denken, sich alles nehmen zu können und zu nutzen – statt es liegen zu lassen, damit es nicht noch mehr kaputt geht?

Mir hat das sehr zu denken gegeben. Die Denkweise wundert mich nicht, denn durch dieses Nimm-dir-Denken der Menschen sind wir ja jetzt da, wo wir sind. Klar, neu ist diese Erkenntnis natürlich nicht. Und mir ist auch bewusst, dass 1840 kein Paradies war, in dem Menschen und Tiere friedlich nebeneinander lebten – schon sehr viel früher haben die Menschen und ihre Vorfahren Tierarten verdrängt (ich denke z.B. an das Massensterben der Megafauna vor 12.000 Jahren (Overkill-Theorie)). Allerdings geschah das nicht mit der heutigen industriellen Effizienz, mit der wir ganze Lebensräume im Vorbeigehen verschwinden lassen.

Aber was für ein Unterschied im Denken, auf den Palin hier aufmerksam macht! Der eine, der die Welt entdeckt, um sie abzuholzen und auszubeuten, der Ureinwohner als unzivilisierte, störende Barbaren vertreiben würde – und das auch noch als etwas Gutes betrachtet. Ich würde gern die Welt entdecken, um mich an ihrer Fülle und Perfektion zu erfreuen, voller Dankbarkeit, so etwas erleben zu dürfen.

Natürlich sind wir alle Kinder unserer Gesellschaft, so ist es ja klar, dass man früher anders gedacht hat als heute. In Ross‘ Augen wäre ich eine schlechte Geschäftsfrau.

Mich fasziniert nur diese andere Art zu denken. Frei von Schuldgefühlen, dafür voller Tatendrang und Glauben an die unerschöpflichen Ressourcen der Erde. Das ist eine fundamental andere Auffassung der Umwelt, als wir sie heute haben.

Mit welchem Recht konnten die „zivilisierten Nationen“ der Neuzeit so denken, und etwa mit Gewalt Ureinwohner töten oder vertreiben und ihr Land in Besitz nehmen? Die Bibel erlaubt das nicht nur, sondern treibt auch dazu an: „Seid fruchtbar und mehret euch, füllt die Erde und unterwerft sie“ (Genesis 1,28). Kein Wunder, dass man dann loszieht und es so tut, wenn Gott es doch will.

Ist die Bibel schuld daran, dass die Europäer als Vorgänger der heutigen Industrienationen mit gewaltsamen Schritten vorangingen bei der Ausbeutung unseres Planeten? Oder liegt es doch in der Art des Menschen, immer mehr zu wollen?

Heute ist es nicht die Bibel. Noch immer wird aber der Amazonas Hektar um Hektar verbrannt und die Ozeane rücksichtslos leer gefischt. Versuche, Lebensräume und Tiere zu schützen, bleiben zu zaghaft und man muss sich in zähem Ringen auf die kleinsten gemeinsamen Nenner einigen. Was hätte wohl Ross gesagt, wenn man ihm erzählen würden, wohin die Ausbeuterei führte?

Zeitvertreib: Auf der Couch sitzen und mit Google Maps die Polarregionen in all ihrer Pracht entdecken :D

Aufarbeitung der Franklin-Expedition

Aber zurück ins 19. Jahrhundert.

Natürlich geht es in EREBUS auch um die Franklin-Expedition. Auch, wenn sie vergleichsweise weniger Raum einnimmt, arbeitet Palin sie hervorragend auf und geht auf alle bekannten Aspekte ein. Er betrachtet etwa, wie die Schiffe für ihre Expedition weiter verbessert wurden, und welche Vorräte sie erhielten. Sogar einige der Offiziere stellt er vor.

Als Leser bekommt man den Eindruck, dass Sir Palin während der letzten Monate vor dem Verschwinden der Schiffe selbst als Geist neben den beiden Schiffen schwebt. Er begleitet die Erebus und Terror minutiös bis zu ihren letzten Sichtungen bei Grönland. Er berichtet von der Stimmung an Bord und von kleinen Navigationsfehlern. Ich glaube, einen lebendigeren Eindruck kann man nicht von der Expedition bekommen.

Natürlich gibt es auch Fachliteratur zu der Franklin-Expedition, Bücher mit wissenschaftlichen Analysen und Fußnoten über Fußnoten. Sicher kann man noch mehr Detailwissen anhäufen, aber darum geht es nicht in Palins Buch. Man merkt, dass er es nicht „im Archiv“ geschrieben hat, sondern dass er auch durch den Besuch der Originalschauplätze versuchte, den Schiffen so nah wie möglich zu kommen.

Nachdem keine Briefe mehr die Schiffe verlassen und sie auch nicht mehr gesehen werden, kann aber auch Palin nichts mehr darüber berichten. Er wechselt nun die Perspektive und beschreibt, welche Anstrengungen unternommen wurden, um die Expedition zu suchen. Lady Franklin, Franklins Ehefrau, hatte dazu einen unermüdlichen Beitrag geleistet. Palin zieht Auszüge ihrer Briefe mit ein, die sie an die Admiralität und auch an ihren Freund, den früheren Erebus-Kapitän James Ross richtete.

Und natürlich darf nicht fehlen, was die moderne Wissenschaft an Erkenntnissen über die Franklin-Expedition gewonnen hat. Palin bringt den Leser auf den Stand der Forschung bis 2018. Es wurden durchaus Überreste der Expedition gefunden, und auch die beiden Schiffe waren 2014 und 2016 weitgehend intakt geortet worden. Palin führt DNA-Analysen der gefundenen Knochen an und natürlich auch die diskutierten Theorien darüber, warum die Expedition scheiterte.

Wie sehr den Autor Palin das Schicksal der Männer interessierte, liest man gegen Ende des Buchs.

Was auch immer der Grund für ihr tragisches Schicksal war: Die Grausamkeit, mit der es sie ereilte, als sie das Schiff verlassen hatten, entzieht sich unserer Vorstellungskraft. Als die Masten der Schiffe, die drei Jahre lang ihr Zuhause gewesen waren, außer Sicht gerieten, welche Hoffnung erhielt sie da noch am Leben? […] Auf den Schiffen hätten sie sich zumindest vor dem eisigen Wind schützen können. Doch auf der flachen, baumlosen Insel, über die der Wind ungehindert hinwegzog, muss die Kälte unerträglich gewesen sein. […] In welchem Moment verloren sie die letzte Hoffnung?

EREBUS, S. 138f

Hier sehen wir, dass es Palin nicht primär um das Zusammentragen von Fakten ging, sondern um die Menschen der Expedition. EREBUS gibt einen guten Rahmen dafür, sich vorzustellen, was es bedeutete, sich an Bord der Erebus oder Terror zu befinden. Leider fehlen noch immer Antworten auf quälende Fragen wie die, die Palin hier stellt.

  • Woran war Franklin gestorben? Was bedeutete das für die Moral an Bord?
  • Wann kam wohl erstmals die Idee auf, die Schiffe zu verlassen? Wie viele Diskussionen darüber gab es unter den Offizieren?
  • Wie ist es, für das Leben von 130 Männern verantwortlich zu sein und die Karte wählen zu müssen, auf die man ihr Schicksal setzt?
  • Wie groß muss die Verzweiflung sein, damit Kapitäne mit gesammelter Mannschaft ihre Schiffe verlassen und einen weiten, gefährlichen Marsch über Land wagen?
  • Ließ sich die Disziplin aufrecht erhalten?
  • Wann begann man damit, Schwache und Kranke zurückzulassen?
  • Wann begann man damit, tote Kameraden zu essen?

Ich würde zu gerne wissen, was sich 1847-1848 zugetragen hat und wie die Männer ihre Situation selbst bewerteten. Und ich bin gleichzeitig unendlich froh, in meiner warmen Wohnung zu sitzen.

Mir macht auch zu schaffen, dass bereits im Jahr 1847 erstmals über Such- und Rettungsexpeditionen nachgedacht wurde. Lady Franklin hat sich in der Hinsicht sehr engagiert. 1847 hatten Verschollen gerade ihr erstes Jahr festgefroren im Packeis hinter sich. Wie war ihnen wohl zu mute, als sie merkten, dass das Eis sie nicht freigeben wird? Die erste Suchexpedition brach unter James Ross Anfang 1848 auf – also dann, als die Dinge auf King William Island gerade gewaltig schiefgingen. Es macht mich irgendwie traurig zu wissen, dass die einen mit dem Tod konfrontiert waren und in Verzweiflung Menschenfleisch aßen, während an anderer Stelle schon Rettung eilte – aber es passte nicht zusammen.

Jedenfalls – Franklin durchsegelte nicht als erster die Nordwestpassage. Auf einem russischen Eisbrecher wollte Palin selbst als Tourist die King-William-Insel besuchen, auf der die Expedition so ein tragisches Ende nahm, und in deren Umgebung die Schiffe heute am Meeresgrund liegen. Doch wegen zu dichtem Packeis musste der Eisbrecher 200 km vor der Insel umkehren.

Hier drängt sich unweigerlich der Vergleich mit Captain James Ross und seinem Versuch, den magnetischen Südpol zu erreichen, auf, oder mit Captain John Franklin selbst: Es klappte nicht. Wie die beiden Männer, über die Palin berichtet, ist er schwer enttäuscht, dass er den Ort nicht erreichen konnte, den er suchte. Aber er war dicht dran.

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EREBUS – Wertung

Bewertung: 4 von 5 Sternen

Auch wenn Palins eigene Reise auf Spuren der Erebus ihn nicht zu deren Wrack führte – sein Buch darüber ist authentisch, mitreißend und voller Wissen. Wenn ein Buch mich derart zum Mitdenken nach Nachgoogeln bringt, dann ist es gut. Wer Entdeckerlektüre mag und sich für tragische Geschichten interessiert, der ist hier richtig!

Bewertungskategorie FachwissenBewertungskategorie Lesespaß

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