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6. August 1903 – Die europäische Massenauswanderung

Historische Zeitungen

Heute vor 117 Jahren erschien in der Berliner Vossischen Zeitung ein längerer Artikel über die Auswanderung europäischer Bürger v.a. in die USA. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert hatte die Auswanderung stark zugenommen, im Bericht unten steht, dass allein im April 1903 92.000 Menschen in New York angekommen sind, jährlich seien das rund 700.000 Neuankömmlinge allein in den USA.

Ich habe immer wieder in anderen Zeitungen schon kurze Mitteilungen gelesen, wie viele Menschen über Hamburg und Bremen letzten Monat ausgewandert sind. Der unten stehende Artikel geht auch auf diese Kurzmitteilungen ein, bietet aber insgesamt einen gut lesbaren und ziemlich interessanten Überblick darüber, wer warum wohin unter welchen Umständen auswandert.

Vor allem befasst er sich aber mit den Gründen für die Auswanderung, die Art und Weise, wie die Menschen über das Meer verschickt werden und was diese massenhafte Auswanderung für das verlassene Heimatland und inbesondere auch für die neue Heimat bedeutet. Die meisten Auswanderer seien ungebildet und seien in den USA auf Bettelei oder, wie in Brasilien, auf Arbeits- und Pachtverträge angewiesen, die sie fast schon zu Sklaven machten.

Auch die Einreisebestimmungen in den USA, durch die Kranke, Behinderte und alleinstehenden Schwangeren oder unverheiratete Frauen mit Kindern wieder zurückgeschickt werden, werden thematisiert, und auch, wie diese Prüfung in New York stattfindet.

Insgesamt musste ich bei diesem Beitrag ein wenig schlucken. Da stehen fast ziemlich genau die Gründe für eine Auswanderung, aus denen auch heutzutage Flüchtlinge über das Meer nach Europa kommen: Sie suchen ein neues, besseres Leben für sich selbst oder die Familie – können ihrerseits aber wenig bieten. Unglaublich, dass bei uns auch einmal solche Bedingungen geherrscht haben, dass die Menschen keine andere Alternative mehr gesehen haben, als ihr Heim aufzugeben und ins Ungewisse aufzubrechen.

Es sollte also für uns nicht so unverständlich sein, dass Menschen, denen es schlechter geht, so etwas machen. Und wie wir nun merken, hat sich das Blatt nun gewandelt: In Europa lässt es sich gut leben, so gut, dass andere nun zu uns kommen möchten.

Interessanterweise steht im allerletzten Satz des Artikels, dass durch die Massenwanderung die Menschen besser verteilt und vermischt werden, so dass die Ressourcen der Erde besser genutzt und gleichzeitig Rassenhass gemildert werden kann.

Der folgende Artikel ist also ziemlich lang, aber er hält uns auch auf interessante Weise den Spiegel vor!

Auswanderer!

Von A. Stramm

Der Trieb, Heim und Herd zu verlassen und hinauszuwandern ins Ungewisse, ist so alt wie das Menschengeschlecht. Die Sucht nach Neuem, der Drang nach Wissen, die Erwartung von etwas Großem, das die Heimat nicht bietet, Tatendrang und Kraftgefühl und nicht zuletzt wirkliche Not haben, abgesehen, von äußeren Anstößen, von jeher die Menschen aus ihren angestammten Wohnsitzen getrieben. Früher führte der Wandertrieb ganze Völkerstämme über die Erde [gemeint ist die Völkerwanderungszeit vom 4. bis ins 6. Jahrhundert n. Chr.], heute zeigt es sich in einzelnen Personen und Familien, die vielfach in friedlicher Arbeit die Kultur in noch unbewohnte Flecke der Erde tragen.

Diese Einzelwanderung aber ist so häufig, dass man auch heute noch mit Recht von einer Völkerwanderung sprechen kann, die sich unaufhörlich von Osten nach Westen vollzieht, und nur wegen ihrer stillen und friedlichen Art von der großen Menschheit nicht wahrgenommen wird. Die Zeitungen bringen darüber nur ab und zu kurze unscheinbare Notizen, die der Leser im Binnenlande unbeachtet lässt, weil er nicht weiß, welche Bedeutung für Handel und Verkehr und welche Beleuchtung der wirtschaftlichen Zustände unseres Kontinents in den wenigen gedruckten Worten liegt: „Die Auswanderung betrug im Monat … über Hamburg …, über Bremen …, über ausländische Häfen etc. so und so viel Tausend Personen.“

Um welche Menschenmassen es sich hierbei handelt, lassen die statistischen Ermittlungen ersehen, nach denen z. B. im April dieses Jahres in New York 92.000 Einwanderer gelandet sind.

Derart gewaltige Volks- und Rassenverschiebungen sind natürlich für die einzelnen, zumal die kleineren Staatengebilde von größter Bedeutung. Dem einen Lande gehen Tausende arbeitskräftiger und williger Angehörige verloren, für das andere Land liegt die Gefahr nahe, dass seine wirtschaftlichen Verhältnisse durch den Zuzug von mittellosen Individuen, die es nicht ernähren kann, heruntergedrückt werden.

[…]

Im Gegensatz zu dieser Auswanderungspolitik, die im Laufe der Jahre den Wandergelüsten immer mehr Freiheit ließ, sind die Absperrungsmaßregeln gegen die Einwanderung in den meisten Ländern eher strenger als milder geworden. Hauptsächlich gilt dies für die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die erst neuerdings eine Verschärfung der Bestimmungen über – oder besser gesagt gegen – die Einwanderung beabsichtigen, da das bisherige Reglement nicht ausreicht, das Land vor einer Anzahl mittelloser Einwanderer zu schützen.

Nach einem Bericht des Einwanderungsamtes in New York befanden sich unter den 700.000 Einwanderern des Jahres 1902 nur 130.000 gelernte Arbeiter einschließlich Fabrikarbeiter, während die Zahl der Frauen und Kinder allein 150.000 betrug. Die weitaus meisten hatten niemals eine Schule besucht und keinerlei Handwerk erlernt. Nur 10 v. H[undert] der Einwanderer gingen in das Innere des Landes, d. h. in die Ackerbaustaaten des Westens und die Plantagen des Südens weiter. Die übrigen blieben in New York und den nächstgelegenen Großstädten, wo sie in der Mehrzahl die Reihen der Bettler, Vagabunden und Verbrecher vergrößerten.

Nach den bisherigen Gesetzen konnten von diesen Einwanderern kaum ein halbes Hundert zurückgewiesen werden. Denn die amerikanische Behörde stellte im Wesentlichen für die Erlaubnis zur Einwanderung nur Gesundheit, Rüstigkeit, Arbeitsfähigkeit und anständige Kleidung, sowie etwas bares Geld als Bedingung.

Sie verwehrt dagegen die Landung allen Schwachsinnigen, Krüppeln, Lahmen, Blinden, Taubstummen, Personen mit ansteckenden oder unheilbaren Krankheiten, schwangeren unverheirateten Frauenspersonen sowie mittellosen alleinstehenden Frauen mit ihren Kindern. Auch Arbeiter, die vorher mit einer Fabrik oder Privatperson in Amerika einen Vertrag abgeschlossen haben, der ihnen Arbeit in Amerika zusichert, werden unbedingt zurückgewiesen.

Diese Bestimmungen werden zwar jetzt schon zur Fernhaltung unwillkommener Elemente so streng wie nur irgend angängig gehandhabt. Die neuen zur Einführung kommenden Vorschriften werden jedoch die Anforderungen an die „paupers“ [von lat. pauperes, die Armen] geistig und pekuniär [also finanziell] bedeutend höher schrauben.

Das Hauptziel der europäischen Auswanderung sind noch immer die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die Wanderung nach den übrigen Ländern ist im Vergleich dazu gering. Zwar haben Mexiko, Westindien, Zentral- und Südamerika wiederholt versucht, die Auswanderung an sich zu ziehen, und versuchen es noch heute.

Abschreckend wirken aber teils das für Europäer teils gefährliche Klima, teils innere Zustände der Länder selbst, wie es z. B. in Brasilien der Fall ist, wo die sogenannten Parceriaverträge die Einwanderung ungünstig beeinflusst haben. Es waren dies Verträge, welche brasilianische Großgrundbesitzer mit europäischen Einwanderern abschlossen, nach denen diese den Grund und Boden jener gegen Überlassung der Hälfte des Ernteertrags bestellen mussten. Es handelt sich hierbei zur Hauptsache um deutsche Einwanderer, welche auf Grund des Vertrages fast zu Sklaven der Brasilianer wurden.

[…] die größte Masse [der Auswanderer] geht über Hamburg oder Bremen nach Nordamerika. Diese beiden Städte sind für die Mitteleuropäische Auswanderung überhaupt die bedeutendsten Ausgangshäfen. Aus allen Landstrichen Österreichs und den südwestlichen Provinzen Russlands findet man Gestalten dort zusammengewürfelt und am Bahnhof und den angrenzenden Straßen zeigt sich häufig ein derart buntes und eigenartiges Nationalitäten- und Sprachengewirr, dass die Zeiten des Turmbaus zu Babel kaum besser illustriert werden können.

In Sonderzügen werden die Wanderer aus ihrer Heimat dorthin befördert. Ich habe mir erzählen lassen, dass oft ganze Dörfer in Galizien u. s. w. die Lust zur Fremde überfällt. Einzeln und in Scharen werden sie von den Agenten eingeschrieben und zu bestimmter Zeit zur nächsten größeren Bahnstation bestellt, dort in den bereitstehenden Sonderzug gepackt und die große Wanderung beginnt.

Mit Sack und Pack ziehen sie los, mit Kisten und Koffern beladen, die Betten in Bündeln auf dem Kopfe, die kleinen Kinder in einem Sack auf Brust oder Rücken, alles haben sie mitgenommen aus der Heimat bis auf den zerbrochenen Kaffeekessel, den sie krampfhaft in der Hand halten. Alte ergraute Leute, in deren Antlitz das Leben seine Spuren eingegraben hat, junge Burschen und Weiber, denen die Lust am Leben aus den Augen schaut, Kinder, die, furchtsam an Mutters Rock sich anklammernd, die ungewohnte Umgebung mustern, jedes Lebensalter und Geschlecht ist vertreten.

Neugier und Wunsch, ihre Lage zu verbessern, Gerüchte und Nachrichten von Verwandten und Bekannten, denen es in der Fremde gut gehen soll, hier und da auch die Sehnsucht nach bereits früher ausgezogenen Angehörigen haben den Wandertrieb erweckt und das Zureden der Agenten hat der Unentschlossenheit den letzten Stoß gegeben.

Die Landbevölkerung stellt die meisten Auswanderer. Die unbefriedigende Verteilung von Grund und Boden, die unglaublich niedrigen Löhne, für die sich die Leute Tag für Tag abplagen müssen, tragen neben nationalen und religiösen Gegensätzen die Schuld an der Heimatflucht. Auch in Deutschland weisen die vornehmlich Ackerbau treibenden Landesteile trotz ihrer dünnen Bevölkerung die verhältnismäßig stärkste Auswanderung auf, während die industriereichen Gebiete weit weniger beteiligt sind.

In den Hafenstädten werden die Auswanderer von den Angestellten der Agenten in Empfang genommen und in eigens zu Massenquartieren hergerichteten Räumen oder Häusern bis auf weiteres untergebracht. […] In den Hafenorten – Bremen und Hamburg – werden die Auswanderer, die für ein Schiff eingeschrieben sind, bis zur Abfahrt des Dampfers gesammelt, zur Verhütung von Seuchen nach polizeilicher Vorschrift geimpft und am Abfahrtstage nach Bremerhaven oder Cuxhaven mit Bahn aufs Schiff befördert.

Den Zwischendeckseinrichtungen [also 2. bzw. 3. Klasse] der Schiffe haben Behörden und Staat in den letzten Jahren erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet und bedeutende Verbesserungen erzielt. Früher glichen die Schlafabteilungen eines Auswandererschiffes eher einer Anzahl Käfige in einer Menagerie, als Ruhestätten für Menschen. Eisengerüste waren in zwölf und noch mehr Abteilungen aufeinandergetürmt, in jeder Abteilung lag ein dünnes langes Strohpolster als Unterbett und ein winzig schmales als Kopfkissen, darüber eine dünne unzureichende Decke aus undefinierbarem Stoff und das Bett war fertig.

Eine gedeckte Vorhalle, ausgestattet mit großen Tischen und roh gezimmerten Bänken ohne Lehne stellte den Speisesaal vor, in dem die „Passagiere“ ihr selbst in Holzkübeln aus der Dampfküche geholtes Essen – Suppe, Fleisch, Kartoffeln – zu sich nahmen.

[Der nun ausgelassene lange Absatz beschreibt, welche Besserungen es mittlerweile gibt – das liest sich durchaus mehr nach einer Passagierreise :D – Wer mag, kann ihn direkt in der Zeitung selbst lesen.]

[Nach der Ankunft] tritt dann die neue Sorge der Zulassung an den Heimatflüchtigen heran. Die Kajütenpassagiere [erste Klasse] verlassen den Dampfer und keiner fragt sie nach Herkunft, Person, Reisezweck und Ziel. Das Kajütenbillet ist der Freipass, der ihnen das Land öffnet. Die Zwischendecker aber erwartet eine eingehende Prüfung.

Erst, wenn die übrigen Passagiere den Dampfer verlassen haben und in alle Winde zerstoben sind, dürfen auch sie das Land betreten. Beamte der Einwanderungskommision nehmen die Ankömmlinge in Empfang und führen sie im geschlossenen Truppe zu den Prüfungsbureaux [bureaux = frz. „Büros“ :D]. [Hier nun ausgelassen: Funktionen und Ausstattung der Büros]

Die Prüfung selbst wird [in New York] mit aller Strenge vollzogen und wer nur irgendeinen Anlass körperlich, geistig oder moralisch bietet, wird zurückgewiesen. Um sich unbedingte Gewissheit über die Wahrheit der Aussagen zu verschaffen, werden zuweilen die seltsamsten Mittel angewandt. Leute, die zusammengehören oder aus gleichem Orte kommen, werden voneinander getrennt und an verschiedenen Stellen ausgefragt. Wer den Verdacht erweckt, Justizflüchtling zu sein oder sich durch die Auswanderung einer Strafe entziehen zu wollen, wird unweigerlich ausgesperrt.

Pärchen, die sich über ihre Eheschließung nicht ausweisen können, werden vor die Alternative gestellt, zu heiraten oder zurückzuwandern. Gleich im Saale wird die Trauung vollzogen. Ein besonderer Standesbeamter ist beim Einwanderungsdepot gegen festes Gehalt angestellt und stets zur Hand. Den „Brautleuten“ wird die vorgeschriebene englische Formel vorgesprochen, und der Dolmetscher teilt ihnen mit, dass sie glücklich verheiratete sind. Kosten sind damit nicht verknüpft. Gegen Erlegung von 2 Dollars wird dem jungen Paare zwar auf Wunsch ein Trauschein ausgehändigt, der von zwei dem Brautpaar unbekannten Zeugen unterschrieben ist, aber notwendig ist in Amerika ein solcher Schein nicht.

[…]

Nach beendeter Prüfung werden die Zurückgewiesenen wieder aufs Schiff gebracht. Die Schiffsgesellschaft muss sie auf eigene Kosten zurückbefördern, hält sich aber durch Ausnutzung der Arbeitskräfte der unfreiwilligen Passagiere nach Kräften schadlos.

Die Zugelassenen sind frei. Kein Mensch bewacht mehr ihre Schritte. Sie können gehen, wohin sie wollen, tun und lassen, was ihnen beliebt und das Gesetz erlaubt. Eine neue Welt steht ihnen offen. Den Kampf um Leben, Brot und Glück können sie auf neuer Grundlage beginnen. Der eine steigt aufwärts, der andere ringt bis an sein Lebensende genau wie in der Heimat ums tägliche Brot, der Dritte geht unter. […]

Die Welt hat noch Raum und Kraft genug, vielen weiteren Millionen von Menschen Platz und Unterhalt zu gewähren, wenn nur die Verteilung eine zweckentsprechende ist. Und dazu hilft die Natur selbst, indem sie den Wandertrieb der Menschen erweckt, der sie auseinander und durcheinander schleudert, damit sie nicht auf einem Klumpen hocken bleiben und einander erdrücken oder in einseitiger Entwicklung verkümmern. Für die Staaten aber bildet die Regelung und scharfe Beobachtung des Wandertriebes eine der wichtigsten Aufgaben sozialer Fürsorge, da mehr als alles andere eine gleichmäßige Verteilung der Menschheit die gewisse Aussicht bietet, Not, Elend und Rassenhass in der Welt zu lindern und zu mildern.

Vossische Zeitung (Berlin) am 6. August 1903, S. 11f, Quelle

Kommentare

Eine Antwort zu „6. August 1903 – Die europäische Massenauswanderung“

  1. Stefan

    Liebe Influencerin,
    es gefällt mir sehr, dass du solche Sachen liest und 117 Jahre später auf deine Website setzt. Wo ich es, wiederum 2 Jahre später, finde. Ich freu mich, und A. Stramm freut’s bestimmt auch! Mach nur weiter so!
    Viele Grüße,
    Stefan

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