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31. Juli 1899 – Reue und Scham

Historische Zeitungen

Vor wenigen Tagen erst hatten wir über den Selbstmord einer jungen Frau im Jahre 1879 gelesen, die sich nach einer schweren Beleidigung ihres zukünftigen Schwiegervaters erschossen hatte. Die genauen Hintergründe blieben dabei unklar, aber es schien, dass der Vater ihres Bräutigams angedeutet hatte, die Dame sei von zweifelhafter Ehre gewesen.

Und heute, allerdings 20 Jahre später, gibt es wieder so einen Fall, in dem es um Moral, Fehler und Ehre ging. Hier bringt sich eine junge Frau um, weil sie das Gefühl hatte, einen schlimmen Fehler begangen zu haben. Lest selbst:

Der Roman einer Frau. Am vergangenen Donnerstag wurde die Leiche einer gutgekleideten Frau am Plan-Ufer aus dem Landwehrkanal gezogen. Die Tote wies eine klaffende Kopfwunde auf, die allem Anschein nach durch einen Bootshaken herbeigeführt worden war.

In der Ertrunkenen wurde die 24-jährige Gattin eines in der Hermannstraße zu Kirdorf wohnenden Beamten Z. rekognosziert und nach der dortigen Leichenhalle überführt. Wie es sich jetzt herausgestellt, hat die junge Beamtenfrau sich aus Scham und Verzweiflung das Leben genommen. Frau Z. war erst kurze Zeit verheiratet und führte mit ihrem Gatten ein glückliches Eheleben, das nur dadurch getrübt wurde, dass die junge Frau Tage hindurch sich in ihrem Zimmer einschloss und laut weinte und schluchzte, allen Fragen des besorgten Ehemannes ein beharrliches Schweigen entgegensetzend.

Da, anfangs voriger Woche, erhielt Herr Z. einen anonymen Brief, in welchem der Schreiber andeutete, dass seine Gattin der großen Liebe des Ehemannes nicht würdig sei. Der sittenstrenge Beamte überschüttete die junge Frau mit Vorwürfen, und die Unglückliche bekannte ihm nun alles. Als 18-jähriges Mädchen hatte sie ein Verhältnis mit einem Kaufmann unterhalten, das nicht ohne Folgen geblieben. Bald nach der Geburt sei jedoch das Kind gestorben und der gewissenlose Verführer habe sich nicht mehr um sie gekümmert.

Dann, nach einigen Jahren, habe sie ihren Gatte, ihre einzige große Liebe, kennen gelernt, und als Z. um sie gefreit, habe sie es nicht über das Herz gebracht, dem geliebten Manne den Fehltritt einzugestehen. Dies sei der große Kummer, der unaufhörlich ihr Gewissen bedrücke und sie in die Arme des Wahnsinn treiben werde. Vergebens versuchte der Ehemann die Aufgeregte zu beruhigen und verließ sie schließlich mit dem Trost, dass er ihr verzeihe. Als er abends nach Hause kam, hatte Frau Z. das Haus verlassen. Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel, dass sie nun, nachdem der Gatte ihr Vergehen kenne, nicht mehr mit ihm leben könne und dass Reue und Scham über ihr entehrtes Dasein sie in den Tod treibe.

Zwei Tage später wurde die Leiche der Unglücklichen am Plan-Ufer aufgefunden; sie hatte ihrem Leben durch Ertränken ein Ende gemacht.

Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung am 31. Juli 1899, S. 3, Quelle

Natürlich wissen wir nicht, was genau passiert ist. Ob Herr Z. der Frau wirklich verziehen hat, oder ob er es nur sagte, um keinen unschönen Verdacht aufkommen zu lassen. Theoretisch kann er sie auch völlig fertig gemacht haben, das wissen wir nicht.

Aber ob so oder so – offenbar hatte Frau Z. so stark das Gefühl, unehrenhaft gehandelt zu haben, dass sie keinen anderen Ausweg gesehen hat. Ich finde das schwer nachzuvollziehen, weil es aus heutiger Sicht so unnötig ist. Eine Beziehung ohne Trauschein, gar mit Kind? War das 1899 noch so ein schlimmer „Fehltritt“?

Oder war es die Tatsache, dass sie diese Vergangenheit ihrem Mann verschwiegen hat? Krass, dass offenbar die Gesellschaft noch so stark vermittelt hat, dass eine unverheiratete Beziehung mit Kind so sehr zulasten der jungen Frau ging.

Heftig auch der anonyme Brief, der Herrn Z. über die „Fehltritte“ seiner Frau aufklärte. War es wirklich so, dass irgendjemand meinte, Herrn Z. unbedingt etwas sehr Intimes mitzuteilen, was lange in der Vergangenheit liegt? Hatte derjenige das Gefühl, es tun zu müssen, um Herrn Z. vor der Untugendhaftigkeit seiner Frau zu bewahren? Und wenn ja, woher wusste derjenige, dass Frau Z. es ihrem Mann nicht selbst gesagt hatte? Es muss also jemand Nahestehendes gewesen sein, um dieses Detail wissen zu können. Und was war seine Absicht? Es hat schon was Missgünstiges, sowas zu machen.

Jedenfalls war es wieder ein interessanter Blick in eine andere Zeit, deren Nuancen heute kaum noch nachvollziehbar sind!

Kommentare

2 Antworten zu „31. Juli 1899 – Reue und Scham“

  1. Waylinkin

    Sehr traurig. Und ja, zu den Zeiten war das die absolute Katastrophe. Das hat sich auch bis in die 2. Hälfte des 20. Jhdt. so gehalten, wenn auch abgeschwächt.

    Meine Eltern z.B. waren bereits vor dem 18. Geburtstag meiner Mutter zusammen und sie war noch vor der Heirat schwanger. Hier hatten sie Glück, weil beide Elternteile für ihre Zeit ungewöhnlich offen und tolerant waren. Und da die Hochzeit schon feststand, gab es keine wesentlichen Probleme.

    Viele andere hatten da wesentlich weniger Glück. Da wurde man als Frau ganz schnell als abartig und Hure verunglimpt…

    1. Waylinkin

      Ach ja, vergessen: Das war in den 1970er Jahren, mein Bruder wurde 1973 als erstes Kind geboren.

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