Heute gibt es mal mehr Bericht und weniger Hintergrund. Es geht um einen Mordprozess in Edinburgh im Jahre 1857, bei dem einer jungen Frau aus angesehener Familie, Madeleine Smith, vorgeworfen wird, ihren früheren, weitgehend mittellosen Geliebten vergiftet zu haben. Dieser Prozess ging damals offenbar durch alle Medien, so hat auch die deutsche Presse darüber berichtet.
Ich bin vor rund zwei Wochen erstmals auf den Fall gestoßen, als der Prozess Anfang Juli 1857 in Edinburgh eröffnet wurde. Der Fall hatte mich interessiert, weil sehr wohlwollend über die Angeklagte berichtet wurde – ein so junges und hübsches Ding, ein Mord wäre ihr ja kaum zuzutrauen.
Heute vor 163 Jahren berichtete die Berliner Volks-Zeitung über den Freispruch, der wenige Tage zuvor unter Beifall der Anwesenden erfolgt war. Dieser zweite Bericht wirft etwas mehr Licht auf den Fall, beantwortet aber auch die letzte Frage nicht: War sie’s? Oder war sie’s nicht? Lest selbst!
Bericht über den Prozessbeginn am 2. Juli
London, 2. Juli. In Glasgow hat vorgestern ein Vergiftungsprozess begonnen, auf dessen Ausgang man aufs Höchste gespannt ist. Ein junges, schönes Mädchen aus einer angesehenen Familie daselbst, Madeleine Smith, ist angeklagt, ihrem Geliebten, einem Franzosen namens Emile L’Angelier, der in einem Glasgower Handlungshause diente, zu verschiedenen Malen Arsenik beigebracht zu haben. Zwei Male war der Mordversuch misslungen; am 23. März aber war L’Angelier unter großen Schmerzen und mit allen Symptomen von Arsenikvergiftung gestorben. Der Verdacht absichtlichen Mordes fiel bald auf das genannte Mädchen, das während der Veruntersuchung jedoch eine merkwürdige Ruhe an den Tag gelegt hat, und sich auch vorgestern, am ersten Tage des Prozesses so würdig und gemessen benahm, dass viele, die sie sahen, an die Möglichkeit einer Schuld zu zweifeln anfingen. […]
Der Saal war bei seiner Eröffnung rasch gefüllt; die Angeklagte trat sicheren Schrittes in Begleitung ihres Kammermädchens ein. Sie war einfach, aber elegant gekleidet, trug ein braunes Seidenkleid mit schwarzer Mantille [Spitzenschleier], einen Strohhut mit weißem Band und schwarzem Schleier, und in der Hand ein Riechfläschchen, von dem sie jedoch während des ganzen langen Verhörs keinen Gebrauch machte. Sie ist von zarter Gestalt, lebhaft und fein in ihren Bewegungen, im Ganzen eine sehr einnehmende Erscheinung. Nachdem sie auf die Anklage wegen zweimal versuchten und zuletzt wirklich vollbrachten Mordes fest und bescheiden mit „Nicht schuldig“ geantwortet hatte, begann das Zeugenverhör: […]
National-Zeitung (Berlin) am 5. Juli 1857, S. 3, Quelle
Bericht über den Freispruch der Angeklagten am 9. Juli
Eine Zusammenfassung des Falls können wir schließlich auch im heutigen Beitrag zum Freispruch der jungen und sehr ansehnlichen Ms. Smith nachlesen.
London, 10. Juli. Gestern ward zu Edinburgh ein Vergiftungsprozess beendet, der seit länger als einer Woche die Aufmerksamkeit des Publikums in hohem Grade in Anspruch genommen hat. Die Angeklagte, Miss Madeleine Smith, ein 21-jähriges Mädchen, von einnehmendem Äußeren, Tochter eines Architekten im Glasgow, war beschuldigt, ihren Geliebten, Emile L’Angelier, aus der Insel Jersey gebürtig, vergiftet zu haben. Die Anklage zerfiel in drei Anklagepunkte.
In dem ersten wurde der Madeleine Smith ein Vergiftungsversuch, den sie am 19. Febr., in den beiden anderen Vergiftungsversuche, die sie am 22. Febr. und am 22. März vorgenommen haben und deren letzter den Tod des L’Angelier herbeigeführt haben sollte, Schuld gegeben.
In Bezug auf den ersten Punkt lautete die Antwort der Geschworenen „Nicht schuldig“, in Bezug auf die beiden anderen „Nicht bewiesen“. In Folge dieses Verdikts ward die Angeklagte, welche während der 9-tägigen öffentlichen Prozedur eine bewunderungswürdige, sie keinen Augenblick verlassende Kaltblütigkeit an den Tag gelegt hatte, in Freiheit gesetzt.
Das im Gerichtssaale versammelte Publikum nahm das freisprechende Verdikt mit lauten Beifallsbezeugungen auf. Bei den schottischen Geschworenengerichten ist bekanntlich nicht, wie bei den englischen, für das Verdikt Einstimmigkeit erforderlich, sondern es genügt die bloße Majorität, außerdem ist es ihnen gestattet, auch den Ausspruch „Nicht bewiesen“ abzugeben. Die Vorgänge, welche den Prozess veranlassten, sind, kurz zusammengefasst, ungefähr folgende.
L’Angelier war als Kommis in einem Handlungshause zu Glasgow beschäftigt und lebte in sehr bescheidenen Verhältnissen. Er scheint ein junger Renomist [„Prahlhans, Aufschneider“] gewesen zu sein, der sich viel auf sein hübsches Gesicht zu Gute tat und sich gern seiner Erfolge beim schönen Geschlecht rühmte. Im Jahre 1855 machter er die Bekanntschaft der damals neunzehnjährigen Madeleine Smith, und zwischen beiden entspann sich bald ein zärtliches Verhältnis. Einer ehelichen Verbindung waren die Eltern des Mädchens, denen der junge Franzose, vermutlich wegen seiner äußeren Lebensstellung, keine passende Partie für ihre Tochter erschien, entgegen.
Dem Willen ihrer Eltern Folge leistend, brach Madeleine auf eine Zeit lang den Umgang mit L’Angelier ab, erneuerte denselben jedoch im Jahre 1856 wieder. Es fanden häufige geheime Zusammenkünfte statt, und das intime Verhältnis endigte damit, dass sie, wie sie sich selbst ausdrückte, de facto seine Frau wurde. Auch ließ der Lord Advocate im Laufe des Prozesses die Bemerkung fallen, es frage sich, ob sie nicht nach schottischem Rechte wirklich als die legitime Frau L’Angelier’s zu betrachten sei.
Es ward eine Anzahl von ihr berührender Liebesbriefe öffentlich verlesen, die sich weniger durch Zartheit, als durch Glut der Empfindung auszeichnen. Gegen Ende des Jahres 1856 kühlte sich jedoch ihre Leidenschaft für L’Angelier ab; aus welche Grunde, ist nicht klar ersichtlich. In einem ihrer Briefe erzählt sie L’Angelier, sie sei zum Teil selbst daran schuld. Sie habe ihn gebeten, ihm ihre Fehler zu nennen, er habe das getan, und sein Tadel habe sie verdrossen. „In Folge davon“, schreibt sie, „erkaltete meine Zuneigung allmählich.“ […. Meine Güte, klingt das unreif..]
Ungefähr um dieselbe Zeit machte ihr ein Mr. Minnoch den Hof, dessen gesellschaftliche Stellung eine weit glänzendere War, als die L’Angelier’s, und ihr Verlangen, die Verbindung mit Letzterem abzubrechen, gewann jetzt einen praktischen Zweck.
Anfangs versuchte sie, dem vertrauten Verhältnisse einfach dadurch ein Ende zu machen, dass sie Kälte gegen ihn an den Tag legte. Dann bat sie ihn um Zurücksendung ihrer Briefe und drückte die Furcht aus, dass er ihren guten Ruf Preis geben werde, gab aber zugleich zu verstehen, dass sie hoffe, sein Ehrgefühl werde ihn davon abhalten. Er richtete hierauf Fragen an sie über ihr Verhältnis zu Mr. Minnoch, über ein Halsband, welches ihr derselbe geschenkt, über die Ansichten ihrer Mutter über ihre Verheiratung etc. Sie versicherte ihm, sie habe kein Verhältnis mit irgendeinem anderen Manne, als mit ihm. „Mein Herz“, bemerkte sie, „ist liebeleer“, und sie flehte Angelier nochmals um Rücksendung ihrer Briefe an.
L’Angelier versagte ihr die Erfüllung ihrer Bitte. Wenn er die Briefe aus den Händen geben wollte, bemerkte er, so würde er sie nicht ihr, sondern ihrem Vater zustellen. Ihr Flehen, ihre „Schuld“ nicht an den Tag zu bringen, sie „nicht in den Tod zu treiben“, blieb vollständig unberücksichtigt. [Das klingt aber dramatisch..]
Am 17. Februar 1857 speiste L’Angelier mit Miss Perry, einer Vertrauten. Er sagte ihr, er werde Miss Smith am 19. Februar sehen, und erzählte ihr später, er habe sie an jenem Tage gesehen. In der Nacht vom 19. auf den 20. Februar befielen ihn Symptome, welche auf eine Vergiftung durch Arsenik deutete. Am folgenden Tage befand er sich besser und ging aus.
Es liegt kein Beweis vor, dass Miss Smith vor jenem Tage im Besitze von Gift war. Sie hatte am 11. Februar versucht, Blausäure zu kaufen; am 21. kaufte sie in dem Laden eines Mr. Merdoch Gift unter dem, wie sich hinterher herausstellte, falschen Vorgeben, Ratten damit vergiften zu wollen.
Am 22. hatte sie wiederum eine Zusammenkunft mit L’Angelier, der in der folgenden Nacht abermals mit denselben, wenngleich etwas schwächeren, Symptomen erkrankte, sich jedoch wieder erholte.
L’Angelier erzählte Miss Perry, vor jenem zweimaligen Unwohlsein habe er ein Mal Kaffee, das andere Mal Chocolade aus den Händen der Angeklagten erhalten.
Am 16. März kaufte Madeleine wiederum und ebenso am 18. März eine Dosis Arsenik, und sie lud L’Angelier ein, sie am 19. März zu besuchen. Der betreffende Brief ging verloren, doch scheint derselbe ihn zu spät erreicht zu haben, indem L’Angelier einen Ausflug nach der Brücke von Allan [evtl. ist damit der Ort Bridge of Allan gemeint?] gemacht hatte. Am Sonntag, 22. März, kehrte er nach seiner Wohnung zurück. Wie er seiner Hauswirtin erzählte, war er auf Anlass eines Briefes zurückgekehrt. An jenem Abende sah man ihn zuletzt zwischen neun und zehn Uhr auf der Straße in der Richtung, welche nach der Wohnung der Angeklagten führte.
Am folgenden Tage starb er unter Symptomen von Arsenik-Vergiftung. Dass L’Angelier an Arsenik gestorben, unterliegt keinem Zweifel. Bei der Leichenöffnung ward in den Eingewieden eine sehr bedeutende Quantität des Giftes gefunden.
Zu bemerken ist, dass Miss Smith bei ihren Arsenik-Einkäufen sehr offen zu Werke ging. Sie brauchte das Gift, wie sie sagte, zu Schönheitszwecken. Was L’Angelier betrifft, so war derselbe ein eitler, in hohem Grade von seinen persönlichen Vorzügen eingenommener Mensch, freundlich und gutmütig, wenn man seinen Wünschen entgegenkam, aber leicht gereizt und rachsüchtig, wenn er sich verschmäht oder vernachlässigt glaubte. Übermut und verzagte Stimmung, die bis zu Selbstmord-Gelüsten ging, folgten bei ihm in raschem Wechsel aufeinander. Er erfreute sich seiner festen Gesundheit, hatte häufig Opium genommen und selbst eingeräumt, dass er Arsenik im Besitz habe. Zu wiederholten Malen hatte er geäußert, er werde, wenn er nur den Mut dazu fassen könne, seinem Dasein ein Ende machen.
Volks-Zeitung (Berlin) am 14. Juli 1857, S. 3, Quelle
Es gibt auch einen Wikipedia-Beitrag zu Madeleine Smith, der aber auch nicht deutlich ergiebiger in Bezug auf diese Mordanklage ist. Hier steht allerdings noch in deutlicheren Worten als im Bericht oben, dass L’Angelier Ms. Smith mit den Briefen erpresst habe. Auf dem Zeitungsbericht geht eher hervor, dass die junge Frau es sich einfach anders überlegt habe und den Mann loswerden wollte. Aber… dieser Bericht scheint auch sehr deutlich zugunsten der Angeklagten gefärbt zu sein.
Letztlich wird also niemand sagen können, ob das Mädchen schuldig ist oder nicht. Zu gern würde ich wissen, was wirklich passiert ist!
Spannend sind die Berichte auf jeden Fall :D Allein wegen der Art der Berichterstattung. Er, ein Franzose, der sich viel auf sein Äußeres und seinen Erfolg bei Frauen einbildete. Sie, die ganz eindeutig das Wohlwollen von Öffentlichkeit und Presse genoss, obwohl die Hinweise sehr belastend waren.
Schreibe einen Kommentar