Eigentlich möchte ich nicht gehässig sein. Dominik Schott, freier Journalist, macht einiges richtig. Er begann ein Archäologie-Studium in Heidelberg, wandte sich dann aber dem Spiele-Journalismus zu. Dabei betrachtet er vor allem die historische und gesellschaftliche Perspektive diverser Spiele – und das auch erfolgreich. Da wir beide somit ähnliche Interessen haben, gönne ich ihm den Erfolg.
Was mich aber ärgert, ist die Masche, die er immer wieder anwendet. Dominiks Konzept scheint zu sein, in jedem Spiel das Haar in der Suppe zu suchen und das Spiel damit auf Teufel komm raus irgendwie schlecht zu reden. Vor einiger Zeit kommentierte ich bereits seinen Beitrag über die Darstellung der Kleopatra in Assassin’s Creed: Origins.
Sein neuestes Werk erschien unter diesem Header auf Vice:
Der Beitrag behandelt die historischen Ungenauigkeiten von Anno 1800. Dazu darf man sich natürlich äußern und es gibt andere Beiträge, die das sehr vernünftig tun. Dazu komme ich weiter unten noch. Bleiben wir aber jetzt noch ganz kurz in der Einleitung.
Du könntest jetzt Folgendes denken: Och, die ärgert sich ja nur, dass jemand ihr neues Hype-Spiel angreift und rastet deswegen völlig aus. Das mag so wirken, ist aber nicht der Fall. Es ist nicht der Angriff auf Anno 1800 oder zuvor auf Origins, sondern die aufgeblasenen Argumentation des Autors, seine künstliche Aufregung darüber.
Im aktuellen Beispiel legt er wissenschaftliche Maßstäbe an, wo wissenschaftlichen Maßstäbe nicht angebracht sind. Seine Empörung über ein Spiel, das er offenbar nicht einmal selbst gespielt hat (dazu ebenfalls unten mehr), wirkt damit aufgesetzt und fast schon peinlich – Hauptsache mal in die Runde werfen, dass Wissenschaftler etwas Unwissenschaftliches als „unwissenschaftlich“ entlarven, wow!
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Ungesunde Ernährung in einem Spiel
Dominik betrachtet in seinem Artikel zunächst die Ernährung der Anno 1800-Bürger. Die besteht bei Bauern nämlich ausschließlich aus Kartoffelschnaps und Fisch. Das wollte er genauer wissen und befragte eine Ernährungsexpertin (Studentin der Osteopathie, „die sich auch intensiv mit gesunder Ernährung auseinandersetzt“), wie verträglich eine Schnaps-Fisch-Diät eigentlich wäre (kaum überraschender Spoiler: ziemlich wenig). Außerdem interessiert er sich dafür, wie historisch korrekt diese Ernährung wohl ist (kaum überraschender Spoiler: gar nicht).
Die Expertin listet dann trocken auf, welche Symptome sich (neben der Alkoholvergiftung) schnell bei den Bauern zeigen würden: Schilddrüsen-Dysfunktion und Mangelerscheinungen. Mensch, sag bloß! Da muss man ja froh sein, dass jemand diese dunkle Wahrheit ans Licht zerrt!
Im Anschluss werden wir noch über den niedrigen Vitamingehalt von Gulasch (Mahlzeit für Handwerker in Anno 1800) und die negativen Auswirkungen von zu viel Kaffee und Rum aufgeklärt.
Experteninterview und Fachmeinung in allen Ehren – aber das ist doch bescheuert. Man muss keine Fachfrau fragen, um zu erfahren, dass Schnaps und Fisch oder sonstige einseitigen Ernährungsweisen mit wahlweise großen Alkoholmengen weder ein langes Leben bescheren, noch eine bezeugte bäuerliche Alltagsmahlzeit waren.
Eine Simulation muss nicht die Realität simulieren
Es handelt sich bei Anno 1800 in erster Linie um eine Wirtschaftssimulation. Diese Simulationen nutzen wie alle Spiele Mechaniken, damit sie funktionieren: Ohne Geld gehst du Pleite, Geld bekommst du durch zahlende Bürger, Bürger müssen essen, Fischer fangen frische Fische für die Bürger, aus Kartoffeln brennst du Schnaps, der die Bürger noch zufriedener macht.
Schnaps mag zwar nicht die beste Wahl für ein Luxusgut sein, aber, Dominik, ich sag dir was: Es ist völlig egal. Es geht hier nicht darum, die Bürger vor Alkoholvergiftungen zu bewahren, sondern darum, unter vordefinierten Bedingungen Städte und Handelsnetze zu errichten.
Offenbar glaubt Dominik, dass ein Simulationsspiel zwingend dazu da ist, die Realität zu simulieren. Aber das ist falsch. Eine Simulation ist nichts anderes als das: Man schaut, wie sich ein Modell unter verschiedenen vorgegebenen Parametern entwickelt.
Es geht hier gar nicht darum, die Ernährungspyramide eines Bauern im 19. Jahrhundert perfekt wiederzugeben. Es geht um Startwerte, diverse Kräfte und ein paar Regeln. Dazu gehört, dass in Anno 1800 Bauern ohne Schnaps und Fisch unzufrieden werden. Nichts weiter.
Eine Simulation im historischen Gewand kann nicht die historische Realität simulieren
Natürlich trägt das ganze Setting von Anno ein historisches Gewand. Aber auch das ist völlig egal. Kein Spiel, Buch, Film, Serie, Simulation, LARP, oder was auch immer den Konsumenten erreicht, kann die gesamte historische Wirklichkeit aller Menschen einer gegebenen Epoche oder der Gegenwart (oder der Zukunft) getreu wiedergeben. Das geht nicht.
Selbst in aufwändigen wissenschaftlichen Projekten wäre es maximal näherungsweise machbar, die Lebensumstände jeder Magd, jedes Lehrlings, jeder Witwe, jedes Seefahrers, jedes Fabrikarbeiters irgendwie abzubilden.
Und bei Spielen ist das etwas ganz anderes. Bildung ist hier nicht die oberste Intention, sondern höchstens Nebenprodukt. Manche Spiele machen schon viel richtig in Sachen historische Genauigkeit, zB. Kingdom Come – Deliverance oder der Museums-Modus von Assassin’s Creed – Origins. Das verdient Lob, ist aber kein Maßstab für andere Spiele, die den Fokus weniger auf Realismus legen.
Interessiert an Let’s Plays und weiteren Videos zu Anno 1800 – Die Passage? Dann schau doch mal auf meinem YouTube-Kanal vorbei, da gibt es einiges dazu zu sehen! Über ein Like oder Abo freue ich mich ganz besonders :-)
Anno 1800 ist historisch nicht akkurat – na und?
Es ist wirklich schade, dass Dominik das Ernährungsdebakel in den Vordergrund stellt. Denn danach hebt er in seinem Beitrag noch weitere Aspekte hervor, die weniger peinlich sind, z.B. der für Anno 1800 ideale Stadtgrundriss. Der weicht nämlich von historischen Stadtgrundrissen im 19. Jahrhundert ab.
Die vielen Feuerwachen haben auch mich schon gestört, während mehrere Kirchen und Hospitäler durchaus denkbar sind. Immerhin waren Hospitäler in mittelalterlicher Tradition Pflegeheime aller Art (beispielsweise für Leprakranke oder auch Arme), und das Spenden für alle, die sich nicht selbst helfen konnten, galt als Akt der Nächstenliebe und somit als Fahrkarte in den Himmel nach dem Tode. Das Argument greift hier freilich nicht, denn die Stadt, die wir in Anno 1800 errichten, hat keine mittelalterliche Tradition.
Aber wie dem auch sei – so sind die Regeln dieser Simulation. Ich kann alles hinwerfen und das Spiel deinstallieren, weil es andere Parameter nutzt als die, die mir genehm wären. Oder ich schaue darüber hinweg, lese mir Fachbeiträge über Feuerwehren und Hospitäler im 19. Jahrhundert durch, habe etwas gelernt und spiele danach weiter ein Spiel, das großen Spaß macht.
Industrielle Revolution: Gesellschaftlicher Wandel und Soziale Frage
Klar, in Anno stimmt so einiges nicht. Natürlich nicht.
- Oder waren Bauernhöfe schachbrettartig in rechtwinkligen Straßenzügen angeordnet? Nein.
- Lebten die Bauern in der Stadt und fuhren täglich zur Arbeit hinaus aufs Land? Nein, sicher nicht.
- Fuhren Eisenbahnen rechtwinklige Kurven? Sicher nicht in dieser Welt.
- Bekam jede 20.000-Einwohner-Stadt eine Weltausstellung? Nein.
- Waren Kaffee, Schokolade und Kautschuk für Hochräder die beliebtesten Importwaren im 19. Jahrhundert? Sicher nicht nur.
- Passierte all das genau im Jahr 1800? Nein.
- Geht das Spiel auf die Gefahren durch Kohlestaub in den schmutzigen Fabriken ein, berichtet über die hohe Sterblichkeit im Kindbett, über schlimmste, beengte Zustände in den Städten, in denen sich mehrere Familien ein Zimmer teilten? Nein.
Nein, Anno 1800 ist nicht historisch akkurat. Keine Frage. Na und? Wie oben beschrieben, handelt es sich nicht um eine Simulation der Wirklichkeit, sondern um eine Modellsimulation mit einigen Anleihen aus der europäischen Neuzeit. Deswegen habe ich persönlich auch keine Probleme mit der Einseitigkeit von Anno, wenn man aus Sicht des Historikers draufschaut.
Das Spiel möchte einen positiv besetzten Narrativ bieten: Hier kannst du dein matschiges Bauerndorf zu einer Stadt von Weltrang machen! Optimiere und erfreue dich am Resultat! So war aber die Realität weder im 19. Jahrhundert, noch irgendwann anders.
In der Realität konnte der Großteil aller Menschen nicht von all den neuen technischen Errungenschaften profitieren, sondern wurden in den Fabriken und auf den Baumwollfeldern gnadenlos ausgepresst. Große Bevölkerungsteile fielen ins Elend, die Menschen starben durch Arbeitsunfälle oder nach der Geburt des x. Kindes, oder schon früh als Kind an einer Krankheit.
Sie wurden ausgenutzt, hatten wenige Rechte und ermöglichten doch einer kleinen Oberschicht ein äußerst angenehmes und luxuriöses Leben – das wir blauäugig in Anno 1800 nachbauen dürfen. Mehr über die Auswirkungen der Industriellen Revolution kannst du im Artikel zur Lage der arbeitenden Klasse in England auf Wikipedia nachlesen.
Und selbstverständlich ist es rassistisch, dass alle Menschen auf den karibischen Inseln der Neuen Welt gebackene Bananen essen, Rum trinken und Alpaka-Ponchos tragen. Genauso rassistisch, wie der Kartoffelschnaps, die Fleischwurst und das Bier der Menschen in der Alten Welt.
Romantisierende Industrialisierung
Ohne Kompromisse ist es nicht möglich, das Leid der „kleinen Leute“ in den Fabriken und auf den Baumwollplantagen mit einer schönen, florierenden Stadt in einer Simulation unter einen Hut zu bekommen. Deswegen unterschlägt Anno 1800 also all die Unterdrückten und konzentriert sich darauf, etwas Schönes schaffen zu wollen.
So vermittelt Anno 1800 ein verzerrtes Geschichtsbild und stellt beispielsweise die beiden Themenblöcke Industrialisierung und Kolonialismus romantisierend dar. In der sauberen Anno-Welt scheint nämlich jeder Bauer durch fleißige Arbeit irgendwann zum reichen Investor werden zu können, und nicht salonfähige Aspekte dieser Zeit, wie etwa Sklaverei und Unterdrückung in der Neuen Welt – aber auch in den eigenen verdreckten Fabriken – fallen unter den Tisch.
Gerade dieser Beitrag macht das ganz gut deutlich und erklärt auch, warum diese Darstellung problematisch ist: Laut einer Studie aus 2018 speichern Spieler die Parameter und die für historische Spiele gestaltete Umwelt als „wahr“ ab und verfügen dann über vermeintliches Wissen über eine historische Epoche. Wir kennen das aus diversen Sandalenfilmen, und schlimmer noch, aus einigen Fernsehproduktionen der jüngeren Zeit, wie Vikings und Götz von Berlichingen.
Dieses Problem kann ich auch voll und ganz nachvollziehen. Ich begann selbst mit 13 oder 14 damit, Civilization I zu spielen und zehrte noch zu Beginn meines Studiums mit 29 von dem (hoffentlich korrekten) historischen Wissen aus der spielinternen „Civilopaedia“. Deswegen: Wer nicht um die dunkle Seite des „schönen Kolonialismus“ weiß, der lernt sie über Anno 1800 auch nicht kennen – im Gegenteil, im Kopf entsteht ein positiv behaftetes Bild dieser Zeit.
Informationen zum Hintergrund wären wünschenswert!
Deswegen sollte Blue Byte bei Start des Spiels einen Hinweis einblenden, dass das Spiel von der Zeit der Industrialisierung und des Kolonialismus inspiriert ist, aber mit der Realität wenig zu tun hat.
Außerdem würde ich mir wünschen, dass sie einen umfangreichen Beitrag über die eingegangenen Kompromisse und Abweichungen von der Wirklichkeit veröffentlichen und im Hinweis bei Spielstart verlinken. Der Beitrag sollte mithilfe von kleinen, aber aussagekräftigen Quellen wie Gemälden, Karikaturen, Zeitungsausschnitten, kurze Auszüge aus Briefen usw. zeigen, wie es wirklich war.
Damit wäre der Bildungsauftrag erfüllt und niemand würde sich mehr über die Geschichtsverzerrung in Anno 1800 aufregen. Außer vermutlich Dominik Schott…
Erfolgreich immer wieder provozieren ist auch nur Clickbait
Während seine Meinung zum Thema Unterdrückung und Sklaverei tatsächlich ihre Berechtigung hat (auch wenn es schön wäre, die Kritik konstruktiv zu äußern), ist seine selektive Betrachtung von Details wie der ungesunden Ernährung einfach nur daneben.
Ich frage mich, warum er sich mit seinen schockierenden Enthüllungen und unter „wissenschaftlicher Schützenhilfe“ so wichtig machen will. Außerdem frage ich mich, ob er überhaupt selbst Anno 1800 gespielt hat: In seinem Beitrag outet er beachtliche Schwächen in der Kenntnis des Spiels. Bei seiner Ernährungskritik wirft er die Ernährungen der Gesellschaftsklassen durcheinander und vergisst sogar die Arbeiter und deren Essgewohnheiten.
Und wenn er schon am Kritisieren der „Quatsch-Simulation“ ist, dann gäbe es noch viel mehr Material. Hat er das etwa nicht gesehen?
- Ist ihm nicht aufgefallen, dass wir riesige Steingebäude offenbar nur mit Lehmziegeln errichten können? Unlogisch!
- Dass eine komplette Leder-Produktionskette fehlt? OMG!
- Dass Ingenieure offenbar nur weiblich sind? Unhistorisch!
- Und dass es keinen gottverdammten Tag-Nacht-Wechsel gibt, was nicht nur unhistorisch ist, sondern auch umgehend in eine ökologische Katastrophe münden würde (man sieht es im aktuellen Netflix-Sci-Fi-Film „Die wandernde Erde„). Unerhört!
Es ist also anzunehmen, dass Dominik gar nicht selbst Anno 1800 gespielt hat. Es scheint, er hat sich einfach Themen rausgegriffen, die „eigentlich immer gehen“, wie die Thematisierung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit, oder die er aus irgendwelchen Foren rausgekramt hat. Dann schlägt er mit seiner „wissenschaftlich gestützten“ Social Justice Warrior-Keule drauf ein und hofft, sich so einen Status als strenger Anprangerer von Missständen zu erarbeiten.
Da Dominik offenbar grundsätzlich selbst Zocker ist, weiß er vermutlich genauso wie jeder andere, dass Spiele nur Kompromisse sein können. Doch er provoziert gern und hat auch damit Erfolg – denn, wie du siehst – bin ich auf ihn reingefallen und schreibe sogar einen Beitrag dazu. Was Besseres kann ihm gar nicht passieren. Also, Dominik: Du machst marketingtechnisch alles richtig, aber deine Strategie ist reines Clickbait unter pseudo-wissenschaftlicher Flagge.
Sorry, aber wenn du als ehemaliger angehender Archäologe „Wissenschaftler“ herbemühst, damit du wegen Schnaps und Fisch auf dem Bauerntisch ein hervorragendes Spiel als Quatsch-Simulation bezeichnen kannst, bist du als Spiele-Journalist mit wissenschaftlichem Anspruch nicht wirklich ernstzunehmen.
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