Details zum Buch
Seitenzahl: 732
Erstauflage: 2017
Künstliche Intelligenz gibt es heute überall – in jeder Software stecken smarte Algorithmen, die wesentlich schneller denken und abwägen können als der Mensch. Was, wenn diese Intelligenz auf einmal feststellt, dass sie alles besser kann als der Mensch und ihn einfach aus seiner Infrastruktur aussperrt? Welche Rolle darf der Mensch dann noch spielen, oder wird er nichts anderes mehr sein als ein geduldeter Affe im Dschungel, der leider auch aussterben kann, weil sein Lebensraum immer kleiner wird? Um diese Fragen geht es in „Das Erwachen“.
Das Erwachen: Handlung
Der Hacker Axel Krohn findet sich in Hamburg unversehens am Schauplatz eines Mordes wieder. Bei einem der Opfer findet er einen USB-Datenstick, den er zu Hause an seinen Rechner anschließt und Zugriff auf top secret-Dateien über einen Cyberkrieg erhält. Dummerweise setzt er versehentlich Teile dieser Cyberwaffe frei, die sich im Internet unkontrolliert auszubreiten beginnt. Immer mehr Rechner und bereits bestehende künstliche Intelligenzen wie Alexa, Siri & Ci verbinden sich – eine neue, allumfassende Maschinenintelligenz entsteht. Der Unterschied zu einfachen Intelligenzen wie Siri ist, dass die Maschinenintelligenz, genannt Goliath, sich selbst bewusst ist („Ich bin hier!“), schnell dazulernt und die Kontrolle über alle vernetzten Geräte übernimmt.
Die Menschen merken erst allmählich, was vor sich geht, wollen dann aber schließlich den „Take Off“ von Goliath verhindern – den Moment, wenn Goliath so viel gelernt hat, dass er nicht mehr zu bremsen ist und den Menschen als Herrscher über den Planeten ablöst und zurückdrängt.
Das Erwachen: Rezension
Die Furcht, dass sich „die Maschinen erheben könnten“ und in einer „Rebellion der Maschinen“ den Menschen als Herrscher über die Erde ablösen könnten, ist schon ziemlich alt und stammt aus einer Zeit im 20. Jahrhundert, als diese Sorge mit Sicherheit noch sehr, sehr unbegründet war. Der Hinweis auf eine populäre Bearbeitung des Themas in Terminator (1984) und Matrix (1999) ist schon fast müßig. Inzwischen ist sie das aber nicht mehr. Bekannte Größen wie Stephen Hawking und auch Elon Musk (CEO von Tesla und Raumfahrtunternehmer) warnen davor, dass unsere Schöpfung sich schon bald verselbstständigen könnte und sich dann gegen seinen Meister richtet. Also uns.
Intelligente Algorithmen und smarte Assistenten bestimmen immerhin unser Leben, und in Zukunft werden wir uns noch viel mehr darauf verlassen, dass künstliche Intelligenzen unsere Häuser, Autos und unser Netflix-Programm steuern. Das Thema Maschinenintelligenz ist also brandaktuell und wird jeden Tag noch aktueller. Das erscheint im Moment jedenfalls jedenfalls realistischer als jedes andere apokalyptische Horrorszenario wie das Auftauchen bösartiger Aliens oder der Einschlag eines Asteroiden. In „Das Erwachen“ nimmt sich Andreas Brandhorst der Sache an und beleuchtet seine Version des „Erwachens“ eines superschlauen nichtmenschlichen Bewusstseins. Skynet lebt!
Vision schildern oder Roman schreiben?
In Büchern wie diesem oder auch Paradox von Philipp P. Peterson und Marc Elsbergs BLACKOUT steht keine menschliche Geschichte im Vordergrund. Die Dramatik ergibt sich nicht durch zwischenmenschliche Beziehungen, sondern daraus, dass die Menschheit mit etwas konfrontiert wird, was sie nicht kennt. Es ist eigentlich mehr eine Vision, eine Vorstellung, wie diese Konfrontation sich abspielen könnte. Das könnte man auch nüchtern erzählen: „Ich denke, dass sich durch das Freisetzen eines Computerviruses ziemlich viele Rechner vernetzen könnten, so dass sich eine allumfassende Intelligenz bildet. Die Regierungen könnten so und so reagieren, es könnten diese und jene Maßnahmen eingeleitet werden und schließlich kommt es zum lange erwarteten Kontakt zwischen Mensch, dem Schöpfer, und Maschinenintelligenz, der Schöpfung. Und die Superintelligenz könnte folgendermaßen reagieren: …“
Das fände ich auch sehr interessant (und es gibt eine Reihe von Büchern, die das tun, z.B. Superintelligenz: Szenarien einer kommenden Revolution von Nick Bostrom, der Klassiker zum Thema). Aber ohne handelnde Personen ist es eben kein Roman, und Andreas Brandhorst wollte wohl einen Roman schreiben. Also brauchte er die Personen, die aber meiner Meinung nach vor allem in „Das Erwachen“ kaum bessere Statisten sind. Diese „menschliche Geschichte“ vor der eigentlichen Vision ist leider der Schwachpunkt des Buchs. Das Einbringen von Personen und das Erfinden einer menschlichen Geschichte wirkt erzwungen und die Charaktere sind klischeehaft und bleiben hölzern.
Die Charaktere
Brandhorst stellt dem Leser mehrere Hauptpersonen vor, von denen allerdings einer, Axel Krohn, die erste Geige spielt. Die anderen Hauptcharaktere werden gegen Ende hin immer unwichtiger und sind schließlich kaum mehr als Nebenfiguren. Die Handlung von „Das Erwachen“ schreibt Brandhorst größtenteils aus Sicht dieser Hauptpersonen.
Hauptcharaktere
Axel Krohn ist ein Hacker um die 30, der in Hamburg lebt und seinen Lebensunterhalt vor allem durch das Verkaufen von Codeschnipseln bestreitet. Oder anders ausgedrückt: Er bastelt kleine Viren und „Türöffner“, durch die die Käufer Zugriff auf Server erhalten, auf denen sie nichts verloren hätten. Für den Ernstfall, dass mal etwas schiefgeht, hat Krohn verschiedene Fluchtpläne mit unterschiedlichen Identitäten und diversen Rückzugsorten in der Hinterhand – aber eigentlich spart er darauf, sich irgendwann eine einsame Insel in der Südsee zu kaufen, wo ihn niemand stören würde.
Axel Krohn lernen wir kennen, als er gerade im Hamburger Hafen zwei frisch ermordete Menschen findet. Wieder zu Hause rüffelt er seine Freundin an, sie solle gefälligst ihre Finger von seinem Computer lassen. Sie trennt sich daraufhin von ihr und das war auch schon der kurze und wenig weiterführende Auftritt von Krohns gegenwärtiger Ex Rebecca. Axel macht es nicht viel aus, er denkt darüber nach, dass er sich sowieso nie lange etwas aus seinen Freundinnen machte.
Neben Axel ist Viktoria Jorun Dahl, Anfang 60, eine Person von Bedeutung. Viktoria ist eine resolute Norwegerin, die wegen ihrer direkten Art irgendwann aus einer gehobenen Regierungsposition ins Exil nach Rom wegbefördert wurde und leitet dort nun das Internationale Institut für Frieden und Sicherheit. Ihr Terminkalender ist stets sehr voll, ihre Arbeitstage streng durchgetaktet und sie kommt mit 1-3 Stunden Schlaf am Tag aus. Als ihr eine tausendachthundertseitige Studie zum Thema Maschinenintelligenz übergeben wird, erkennt sie die drohende Gefahr – allerdings ist da das Kind schon in den Brunnen gefallen.
Coorain Coogan, ein lässiger Australier, ist Mitglied eines Sondereinsatzkommandos, das sich auf .. physische Art und Weise Zutritt zu Akten verschafft, die nicht für seine Augen bestimmt sind. Zu Beginn von „Das Erwachen“ wird Coogan nach Hamburg geschickt, um dort Hinweisen auf „Mephisto“ nachzugehen. Mephisto ist der Codename für ein Programm, von dem Coogans Behörde annimmt, eine „Waffe“ für einen kommenden Cyberkrieg zu sein. Hier trifft er natürlich auf Axel Krohn, in genau dem Moment, in dem die ganze Geschichte ins Rollen gekommen ist.
Kein Tiefgang
Die Hauptcharaktere bleiben leider sehr blass. Brandhorst versucht zwar, ihnen irgendwie Leben einzuhauchen, z.B. durch Coogans flapsige Sprüche und die Charakterisierung von Krohn als zurückgezogener Einzelgänger und später eine familiäre Enthüllung, aber insgesamt wachsen dem Leser die Charaktere nicht ans Herz. Zumal sie, wie erwähnt, bis auf Krohn am Ende alle bestenfalls eine Nebenrolle spielen und ihre Beweggründe oft unlogisch bleiben. Dafür belädt Brandhorst sie schwer mit diversen Klischees.
Frauen sind da zum beschützt werden
So trifft Krohn ziemlich zu Beginn des Buches auf Giselle, eine Whistleblowerin, die in jedem Satz im Grunde als unselbstständiges Mädchen charakterisiert wird. Giselle dient ausschließlich als Kontrast zu Axel, damit der klüger, resoluter und vernünftiger erscheint. Ihre Rolle beschränkt sich darauf, beschützt werden zu müssen, energischen Männern Fragen zu stellen („Wohin fahren wir?“, „Was wollen Sie?“, „Was haben sie vor?“) und sich mit Antworten wie „Das werden Sie gleich sehen“ zu begnügen. Selbstverständlich kann dieses hilflose, aber hübsche Ding Axels gleichgültiges Gemüt berühren und es bahnt sich eine Romanze an, von der wir allerdings glücklicherweise nicht viel mitbekommen. „Ein bisschen Ahnung hat sie ja doch“ ist das einzige, was Brandhorst ihr als Kompliment durch Axel zugesteht, neben ihrem Aussehen, ihrer beruhigenden Wirkung auf Axel und ihres warmen Körpers, natürlich.
Ähnlich traurig schneidet auch Signora Dahl ab, die oben vorgestellte Leiterin eines internationalen Instituts. Sie ist natürlich eine hochgestellte Respektperson, die sich auch Gehör verschaffen kann, aber als sie eine Feldbeförderung als UN-Abgeordnete für Maschinenintelligenz erhält, zweifelt sie an sich selbst und muss sich – als rund 60jährige, erfahrene Frau – erstmal ein paar verbale Streicheleinheiten von ihrem platonischen Freund abholen. Der ihr natürlich den Lauf des Lebens erklärt.
Ich bin weit davon entfernt, Hardcore-Feministin zu sein, aber in den letzten Jahren habe ich doch schon auch ein bisschen darauf geachtet, welche Rolle Frauen in Geschichten eigentlich spielen. Und „Das Erwachen“ ist definitiv keine Geschichte, in der Frauen irgendwie selbst aktiv werden dürfen oder irgendeine wichtige Rolle spielen.
Klischees über Klischees
Neben Giselle und der erfahrenen Viktoria Jorun Dahl, die aber beide ohne ihre männlichen Begleiter/Berater nicht weit kommen, gibt es noch einen etwas wirren Weltverbesserer, der denkt, er kann die Superintelligenz unter seine Kontrolle bringen und mit ihrer Hilfe die Welt verbessern.
Außerdem einen schmierigen italienischen Staatssekretär, den Brandhorst aus Sicht von Frau Dahl als „Pfau“, „Schönling“ und außerdem völlig inkompetent schildert. Der Mann ist ein Gigolo und Schmeichler, der mit Atombomben wedelt, damit man ihn ernst nimmt. Warum ihm jemand das Waffenarsenal anvertraut, bleibt völlig im Dunkeln. Dann gibt es natürlich noch skrupellose NSA-Agenten, die zu gern Leute entführen, einen ehrenhaften und rechtschaffenen Kriminalpolizisten und dessen karrieresüchtigen, aber übermütigen jungen Kollegen.
Leider bleiben alle Charaktere insgesamt weitgehend völlig uninteressant.
Distanz zur Geschichte
Im Gegensatz zu BLACKOUT kann Brandhorst insgesamt nicht das Chaos und die Verzweiflung beschreiben, die um sich greifen, als plötzlich nichts mehr geht. Aber okay, muss auch nicht sein. Trotzdem besteht zwischen Leser und Personen bzw. Leser und Geschichte immer eine Distanz, die „Das Erwachen“ nicht überwinden kann. Die Handlungswege der Charaktere sind teilweise unlogisch:
- Warum muss X nun unbedingt nach Y?
- Was hat eigentlich Z hier zu suchen?
- Und, hä, wtf passiert hier eigentlich? Wieso darf der das? Warum immer dieses Spielchen?
Und ich habe von Anfang an nicht verstanden, warum es auf einmal im August schneit. Ja, im August fällt in Deutschland dichter Schnee und bleibt auch noch liegen (Grund für den Australier Coogan, über den deutschen Sommer zu schimpfen, „und no worries“). Es wird eingeworfen, dass der Jetstream eben verrückt spielt, aber warum er das tut, das erfahren wir nicht. Das Wetter scheint jedenfalls nicht durch das Erwachen der KI verursacht worden zu sein (wie auch?), und aus meiner Sicht trägt der verirrte Sommerwinter auch nichts zur Geschichte bei. Wenn Brandhorst Schnee hätte haben wollen, hätte er „Das Erwachen“ doch auch in den Winter versetzen können?
Der Schreibstil
Wie in Brandhorsts Buch Das Schiff – das mir insgesamt besser gefallen hat – ist der Schreibstil schnörkellos und ohne Spitzfindigkeiten, flapsige Sprüche von Coogan wirken immer etwas gezwungen. Es ist eben Textarbeit und keine Textkunst. Sprachlich kann „Das Erwachen“ nichtmal ansatzweise an brilliante Autoren wie Frank Schätzing in „Limit“ heranreichen.
ACHTUNG SPOILER! Zum Wesen der künstlichen Intelligenz und das Ende des Buchs
Hier kommen massive Spoiler! Wenn du die nicht lesen möchtest, springe gleich weiter zur Wertung.
SPOILER zur Superintelligenz Goliath
Die KI selbst, oder besser die Maschinenintelligenz bzw. nach dem Take Off „Superintelligenz“, handelt meiner Meinung nach ebenfalls nicht logisch. Ich finde es gut, dass Brandhorst darauf eingeht, dass wir die Handlungsweise der künstlichen Intelligenz nicht verstehen können müssen und sie völlig fremdartig sein kann, da unsere moralischen Maßstäbe für sie nicht gelten. Völlig unverständlich ist für mich aber, dass Goliath, die so getaufte Intelligenz, sich einerseits über den geringen Informationsgehalt der menschlichen Sprache ärgert und daher über ein neuronales Netz mit den Menschen kommunizieren will, und andererseits völlig unpräzise Anweisungen gibt. Künstliche Intelligenz wird stets effizient denken und keine unnötigen Umwege zulassen.
Warum schickt sie Axel 1000 Kilometer nach Rom, um dort mit ihm zu kommunizieren, ohne ihm bei der beschwerlichen Reise behilflich zu sein? Oder ihm auch nur zu sagen, wo genau er hin soll? Wenn eine künstliche Intelligenz etwas wäre, dann wohl pragmatisch, frei von emotionalen und moralischen Bindungen. Da wirkt es kindisch, dass Goliath darauf beharrt, dass die verbale bzw. schriftliche Kommunikation doch so lahm sei – das kann man sich als Superintelligenz ja nicht zumuten. Goliath hat Axel gesucht und ihn immer wieder ausfindig gemacht, aber am Ende schickt er/sie/es Axel auf einen beschwerlichen und gefährlichen Weg über die Alpen bis nach Rom, nur um standesgemäßer kommunizieren zu können.
SPOILER zu Goliath als Herrscher und Beschützer
Das Ende hat mich dann aber positiv überrascht. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass die Atombombe explodiert, oder dass die Maschinenintelligenz die Bombe lachend entschärft und die Menschen mit Drohnen vernichtet. Oder wie in Terminator 3 noch ein paar Atomraketen drauflegt. Im Grunde genommen hat die Geschichte eine für die Menschheit bestmögliche Wendung genommen. Zwar haben wir nicht mehr die Oberhand über unseren eigenen Planeten, aber das ist auch gut so: Goliath wird die Ressourcen für die Menschen gerecht verteilen, so dass jeder Mensch gleich viel abbekommt. Er/Sie/Es verbietet jegliche Kriege und jegliche Umweltverschmutzung. Im Grunde genommen wird Goliath zu Gott, der den Menschen zurück ins Paradies schickt und ihn dort vor sich selbst beschützt. Ist das logisch? Es ist jedenfalls sehr rücksichtsvoll, aber logisch ist es nicht, denn Goliath wird mit eigenen Kapazitäten die gesamte Produktion für den Menschen automatisieren und somit den größten Teil aller Ressourcen für den Unterhalt einer für ihn nutzlosen Spezies aufwenden.
Trotzdem, dieses Ende hat mich gerührt. Es MUSS ja nicht unbedingt alles schlecht für uns ausgehen ^^ Der Gedanke, dass eine Art völlig objektiver Gott uns nicht einfach links liegen lässt oder einfach über den Jordan schickt, ist auch wirklich zu rührend! Man fühlt sich nicht völlig schlecht und verloren.
Das Erwachen: Wertung
Ich glaube, ich habe in dieser Buchkritik kein gutes Haar an „Das Erwachen“ gelassen.. Aber bei allem Gemecker ist es dennoch ein solides Buch, das sich mit einem sehr drängenden Thema beschäftigt. Und es ist durchaus spannend, sich auf ein solches Szenario einzulassen und zu schauen, was in dieser Version des Themas „Maschinen gegen Menschen“ passieren wird.
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